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Wir sind Menschen, nach japanischen Massstäben . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • 3. Aug.
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 5 Tagen

Depesche 17 - 03.08.2025 - Kyoto



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Heute wird es eine kurze Depesche, nicht das mir nichts einfallen würde, doch wir haben Batterieprobleme. Unser Bulli hat zwei Batterien, wie sich das so für einen Van gehört. Die Autobatterie, die für das Starten zuständig ist und eine Versorgungsbatterie, die für alles andere da ist. Und letztere war leer, so richtig. Also bin ich jetzt 1 Stunde durch Kyoto gefahren und habe auch den hinterletzten Winkel gesehen. Leider ist es jetzt schon Zeit für die Heia. Heißt, ich bin müde und muss eigentlich auf den fliegenden Teppich. Deshalb nur kurz und die Bilder liefere ich nach. Jeder der Japan für ein digitales Hightechland hält, den muss ich enttäuschen. Ich habe gelesen, dass kürzlich das schnellste je gemessene Internet in Japan ans Netzt gegangen ist - so jenseits des Hexabite-Levels, doch dass kann nicht in Kyoto gewesen sein, schon gar nicht in unserer Campinggarage, wo ich grad mal LTE habe, statt der 5G, die sonst schon mal gehen. Da hier nirgends Free WiFi gibt, außer vielleicht im Starbucks, wo ich nie hingehen, muss ich immer alles über meine eSim laufen lassen. Das hat für die 50 Bilder, die heute hochgeladen habe, mal eben 47 Minuten gedauert. Daher kann es schon mal zu nicht ganz perfekten Depeschen kommen.


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Wo ich gerade bei Starbucks war. Wir waren heute in Japans begehrtester Starbucksfiliale - im Geisha-Viertel „Gion“. Wieso weshalb und Warum, dazu komme ich später. Alles fing gut an, wir haben lange geschlafen - was auch nötig war, nach unserem gestrigen Kulturtieftauchen. Während ich so tippsle, Bilder formatiere und hochlade, kümmert sich Anni so winntoumäßig um die Route. Heute ist Sonntag und wir gehen frühstücken. Also geduscht, angekleidet und nichts wie in die U-Bahn und ab zum Nishiki-Markt. Dafür benutzen wir natürlich unsere Suica-Card, die wir schon in Tokyo für die Bahnverbindungen benutzt haben. Das lasse sich der geneigte Leser mal ganz kurz auf der Zunge zergehen. Wir benutzen ein und dasselbe Ticketsystem für den ÖNPV in zwei verschiedenen Großstädten. Aha, so so. Vielleicht sollte ich das mal den Stadtwerken Münster und München empfehlen. Das machen die bestimmt. Aber wir sind ja in Japan und da geht so etwas. Man kann die Karten überall aufladen und ob Bahn oder Bus, kein Ding für den King, wie meine Schüler es immer so schön formulieren.


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Da sitzen wir in einem uralten - zumindest gefühlt - U-bahnwaggon und wenn ich mich so umschaue, dann ist der top in Schuss. Die Sitze mit einem langflorigen und moosgrünen Velourstoff bezogen, der sicher schon seine besten Zeiten hinter sich hat. Doch, da ist kein Brandloch drin, keiner legt seine Füsse darauf ab, geschweige denn irgendeine andere Form von Vandalismus. Es ist ziemlich ruhig, mediumklimatisiert und superpünktlich. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie sagt mir das alles zu. Auch, wenn man eine eher ältere Bahnunterführung langgeht, ist das kein Pippitunnel, wie das bei uns sofort der Fall ist . . . In den Parks hängen überall Schilder, dass es sofort eine drakonische Strafe gibt, wenn man seinen Müll wegwirft. In den Bussen hängen Schilder mit einer Art Wimmelbild eines vollbesetzten Busses, wo man - getarnt als Quiz - das Fehlverhalten der Touristen Wiedererkennen soll. Da das Schild auf Englisch ist, bin ich mir nicht sicher, ob es für die japanischen Mitbürger gedacht ist . . .


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Am Markt kommen wir wieder an die Oberfläche und wie schon in Kanazawa ist man heute hier sehr relaxed. Doch im Inneren stellen wir fest, dass schon ordentlich gebrutzelt und gerollt wird. Wir beginnen an einem kleinen Stand mit Oktopus, Tintenfisch und Jumboshrimps in Tempura mit süsser Sojasoße. Köstlich. Die Fischbude besteht aus hellem Holz, ist über und über mit Wimpeln, Lampions und allerlei sonstigem japanischen Schnickschnack dekoriert. Aber sehr geschmackvoll. Schließlich sind wir in Kyoto, der Stadt der himmlischen Harmonie, Symmetrie und vollkommenden Zurückhaltung. Denn auch hier wird nicht gebrüllt, geschachert oder über den Tisch gezogen. Es gibt alles, von Premium-Highendsushi, über Matchaprodukte aller Art, Teehändler, deren Auslage aus alten Holzboxen besteht, deren Charme bestimmt schon Touristen seid 100 Jahren bezaubert. Es gibt überall Meeresfrüchte und jegliche Form von Gegrilltem, Gedämpftem oder Gekochtem. Sakeprobiererei, Keramikschnickschnack, kleine Schreine, Stempel und was-weiß-ich-nich-noch-alles. Unser zweites Frühstück besteht aus gedämpften Fischfrikadellen. Wer jetzt die Nase rümpft, der verpasst etwas. Fischfrikadellen mit Ingwer, mit Kürbis, mit Oktopus mit Shrimps und was noch alles, hab ich vergessen. Köstlich, wirklich köstlich. So schlendern wir durch das bunte Treiben und nach und nach kommen immer mehr Touristen und - vermutlich einfach


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Einwohner Kyotos - in die Hallen des Lukullus. Wir pausieren im einzigen Café, dass diesen Namen auch verdient, denn alles andere sind nur Matchabuden. Sehr stilvoll, aber Matchabude bleibt Matchabude. Also, nicht meins. Denn wir haben zwei Stempel in Auftrag gegeben. Mein alter Professor für Kunst - leider bereits verstorben - meinte mal in irgendeiner Veranstaltung, in Asien ist man nur ein Mensch, wenn man einen eigenen Namensstempel hat. Aha, so so! Er wäre sicherlich entzückt, wenn er wüsste, dass ich tatsächlich zugehört habe. Ja, ja - sollte man nicht glauben. Also lassen wir uns jeder einen Namensstempel anfertigen, mit einem Etui, indem ein


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durchmessergerechtes Stempelkissen mit eingearbeitet ist. Großartig. Keine Angst lieber Leser, das wird auf jeden Fall fototechnisch dokumentiert. So, nun haben wir einen japanischen Namensstempel, mit unseren Namenssilben darauf. Meist weiß man ja bei asiatischer Kalligrafie nicht, ob das tatsächlich ein Name ist oder nur die Einkaufsliste von Tante Ohashi aus der Negiri Dori Nr. 3. Doch nach japanischem Sozialkontext sind wir jetzt zumindest Menschen - keine Japaner, aber halbwegs human.


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Aber, wir müssen ins Geisha-Viertel, es hilft nichts. Aufgrund der gestiegenen Chinesendichte und der halbnackten Italienerinnen, schwant uns, dass wir heute die volle Tourismusbreitseite bekommen werden, derer Kyoto überhaupt fähig ist. Wir beginnen am äußersten Rand und arbeiten uns in konzentrischen Kreisen immer enger an das alte Weidenrutenviertel heran. Es ist Mittagszeit und die Sonne brennt heute erbarmungslos. Heißt Stufe 03 meiner Ventiweste. Ein tolles Ding, so viel ist mal sicher. Während alle anderen Bleichgesichter - und die meisten Chinamänner auch - wortwörtlich wegfließen, stehe ich da entspannt, mit angenehmen Wind um den Körper. Natürlich ist es auch ein ganz kleines bisschen wie Michelin-Männchen, da ich vierschrötiger Westfale aber eh der Elefant im Porzellanladen bin, macht das den Kohl auch nicht fett. Anni schmunzelt, denn Stufe drei hört sich schon ein bisschen so wie ein leiser Staubsauger an. Mir egal, ich bin cool!


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So richtig im Gion angekommen - so heißt das Viertel - sind Massen unterwegs, auch Massen von Ordnungskräften. Denn nach den vergangenen Auswüchsen, die sich westliche Touristen mit den Geishas geleistet haben, sind nun bestimmte Gassen für Touristen gesperrt. Auch das Filmen und fotografieren ist verboten. An den meisten alten japanischen Geisha- oder Teehäusern steht tatsächlich ein Schild, dass man lediglich Zutritt mit einer persönlichen Einladung hat . . . Schade, dass es immer so weit kommen muss. Heute sind keine Geishas unterwegs, zumindest keine echten. Bei den Temperaturen würde ohnehin die Schminke zerfließen. Aber, ähnlich wie in Thailand, Sonntags geht man in traditioneller Kleidung in den Tempel. Wir wollen den Berg rauf, zum Kiyomizudera Tempel. Das ist der beliebteste Tempel Kyotos. Er liegt halt auf dem Berg und vom Gion geht man durch das - unfassbar touristische, aber sehr historische - Higashiyama-Viertel. Es ist von den Bauten her ziemlich exquisit, vergleichbar mit den Bauten von Narai-juku, nur mit 100% mehr Menschen. Leider sind die Gassen, in deren Mitte ebenfalls eine fünfstöckige Pagode liegt, zum vollkommenen Touristennepp verkommen. Sehr aufwendig renoviert, doch Matchabude, Souvenirbude, Grillbude, Keramikbude, Teehaus, Matchabude, Souvenirbude, etc. reihen sich endlos aneinander und die Gassen sind ziemlich hektisch, voll und dadurch verliert das Ganze so seinen Charme. Aber, so ist das halt mit den Touristen - wir sind ja schließlich auch da. Die Chinesen sind jedoch in der Überzahl und so benehmen sie sich auch - schieben, drängeln, laut, ohne Rücksicht, dass der Planet nicht nur aus ihnen besteht. Leider werden sie ja so erzogen, dass eben genau der Planet nur aus Han-Chinesen besteht, der Rest ist Kroppzeug und steht nur im Weg . . .


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Wir schaffen es ohne Blessuren nach oben auf den Berg. Der Kiyomizudera Tempel ist natürlich wieder Teil einer ganzen Anlage. Dazu gehören Pagoden, Schreine, Glockentürme und größere Hallen, die ich nicht richtig sehen konnte, weil so viele Menschen davor standen. Von hier oben hat man einen fantastischen Blick über Kyoto, besonders der Sonnenaufgang soll hier sehr bezaubernd sein. Da muss man derzeit aber früh raus, denn die Sonne geht schon gegen kurz vor 5 auf. Also, wer diesen Tempel genießen will, muss zeitig aufstehen. Für mich ist eigentlich das 
Schönste an dieser Anlage, gewesen, dass es so viele Bauteile gibt, die mit Zinnober eingefärbt wurden/werden. Das gibt der japanischen Formalarchitektur, die durchaus schon mal gesetzt und massig wirken kann - wie man am Nishi Hongan-ji sehen kann - eine erfrischende Leichtigkeit. Also wirklich schön! Konbanwa folks!

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