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Plastiksushi und Sayonara . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • 24. Aug.
  • 9 Min. Lesezeit

Depesche 32 - 18.08.2025 - Tokyo Airport




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Natürlich sind wir viel zu früh in Haneda. Etwa 5 Stunden zu früh. Aber, zu unserer Ehrenrettung muss ich sagen, dass wir von All Nippon Airways eine Mail gekommen haben, in der angekündigt wurde, dass es heute Abend zu überaus starkem Passagieraufkommen kommt. Aha, so so. Also sind wir nach unserem Tempelbesuch gemütlich zurück zum Hotel gelaufen. Mit Gepäck zum Ueno-Bahnhof und mit einmal umsteigen in den Sky Train, dann super schnell nach Haneda gekommen. Irgendwie wurde uns nach dem Online-Check-In keine Bordkarte für den Anschlussflug von Wien nach Düsseldorf angezeigt und so haben wir noch mal einen ANA Mitarbeiter bemühen müssen. Der Security-Check ging dann super schnell, kein Wunder, denn es waren kaum Reisende da. So haben wir es uns am Gate in der Sitzecke gemütlich gemacht. Daher habe ich jetzt nochmals Zeit und Gelegenheit etwas zu berichten . . .


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Gestern am Nachmittag waren wir nochmal in Shibuya - spontan - und anschließend in Shinjuku. Aber eins nach dem anderen. In Shibuya wollten wir uns das große Treffen der Manga-Szene am Meji-Park anschauen. Sonntags scheint sich dort immer die Szene zu treffen, was eine sehr bunte und auch ziemlich abenteuerliche Verkleidungsparade sein soll. Aber, hier ist niemand, der nur annähernd verkleidet aussieht, vielleicht nur der ein oder andere Chinese, dessen freizeitliches Golfoutfit eher als Parodie durchgehen könnte. In Ermangelung von Hunderten von verkleideten Cos-Playern, schlendern wir noch einmal durch einen Teil von Shibuya und Harajuku, den wir noch nicht gesehen haben. Ehrlich gesagt, hätten wir auch ziemlich was verpasst. Tokyo live, kann ich nur sagen . . . Als erstes stolpern wir über ein Mini-Pig-Café. Genau, der geneigte Leser hat sich nicht verhört - Mini-Pig-Café!


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Das Café hält auch genau, was der Name verspricht! Da drinnen hockt man auf dem Boden, bekommt so ein Miniferkel zugeteilt, ebenso Matcha Latte oder Kaffee Latte und nach Ablauf der Sanduhr muss man ordentlich dafür löhnen, dass man das arme Vieh die ganze Zeit schrubbeln konnte. Was soll ich sagen. Für jemanden, der 25 Jahre aktiver Reiter war, ist so etwas ein totales No-Go. Ich will jetzt hier nicht moralisieren, doch Schweine sind ja nun mal ziemlich emfindliche und auch empfindsame Tiere. Tut mir leid, ein No-Go für mich. Natürlich ist der Andrang ziemlich groß, kein Wunder in Anbetracht von so viel Skurilität. Was dass ständige Kommen und Gehen wohl für einen Stress bei den Tieren auslöst? Aber es wird noch besser - keine zwei Meter weiter gibt es ein Cat-Café. Am Fenster in der ersten Etage kann man sehen, dass die Katzen alle so kleine Acrylverschläge haben, wo sie vermutlich die Nacht verbringen. Außerdem gibt es neben den Katzen auch noch Capybaras. Wenn der geneigte Leser jetzt grad nicht zur Hand hat, was ein Capybara ist, hier die Erklärung: Das Capybara oder Wasserschwein ist eine Säugetierart


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aus der Familie der Meerschweinchen. Als wir dann am Otter-Café vorbei kommen - fotografieren und filmen strengstens untersagt - hab ich echt den Kanal voll. Wenn die Leute unbedingt ein Tier streicheln wollen, dann sollen sie gefälligst raus aufs Land fahren und sich beim Bauern erkundigen, was man machen kann. Aber, dass hier ist echt der Streifen zu viel. Der Andrang in all den animalischen Etablissements ist ziemlich groß, was zeigt, dass es in unserer digitalen Welt, doch eine Sehnsucht nach realer, analoger Lebendigkeit gibt - aber natürlich hübsch sauber, steril und mit Matcha Latte im Zugriff. Also kein echtes Kümmern, sondern nur so eine temporäre Selfiezeitspanne


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lang. Die Straßen in Harajuku sind vollgestopft mit erlebnishungrigen Touristen und hippen, jungen Japanern, für die dieses Pflaster hier keinen besonderen Thrill vertspricht. Sie sind zum Shoppen, Bubble-Tea trinken und französischen Crepés hergekommen. Wie überall in Japan, zeigt ein Schaufenster die Menülage in Marions Patisserie, der In-Spot für Crepés. Vielleicht noch eine Anmerkung zur "Menüvisualisierung". Die meisten Restaurants haben am Eingang einen Schaukasten, wo nahezu alle angebotenen Speisen als Kusntstoffimitat ausgestellt sind. Da gibt es ziemliche Qualitätsunterschiede. Außerdem ist ein eigener Berufsstand veranwortlich für die Herstellung der Plastikkulinaritäten. Heute früh waren wir in dem Viertel, wo die Gastronomie und auch Köche ihre Bedarfe decken. Neben Pfannen, Geschirr und sonstigen japanischen Kochutensilien gibt es hier Keramik, Schürzen, Berufskleidung rund um die Gastrszene und, last but not least, Messer. Das ist eine Wissenschaft für sich.


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Wir lassen die Schwertschmieden links liegen, denn unsere Küchen daheim sind bereits mit schärfsten Hieb- und Stichwaffen aus der Produktion von Nippons Küchenmesserschmieden ausgerüstet. Doch man muss sagen, dass die Dichte der Messerhersteller hier um ein vielfaches höher ist, als bspw. in Osaka. Preislich geht alles, von gutaussehender Billigware bis zu mehreren 10.000 Euro. Messer sind halt eine japanische Institution, so viel ist mal sicher. Leider ist die Keramik nicht so unsers hier, denn der japanische Geschmack scheint hinsichtlich des Tassen- und Tellerdesigns nicht mit unserem deckungsgleich zu sein. Doch, was solls, unser Gepäck hat eh keine einzige Luftblase mehr. Das gesamte Plastiksushi-Sortiment ist wirklich lustig, denn man bekommt tatsächlich auch noch die ausgefallensten Sushiformen in Kunststoff modelliert, zu denen der gemeine japanische Sushikoch fähig ist. Es gibt aber wirklich alles in Plastik, was man sich vorstellen kann, Dekopizza, Dekoobst, Dekofisch, Dekofleisch, einfach alles. Lustig und gleichzeitig auch irgendwie kindlich-naiv, was soll ich sagen, seltsam halt.


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Wir verlassen Harajuku mit der Metro in Richtung Shinjuku. Namensgebend für Shinjuku war tatsächlich eine um 1698 eingerichtete Poststation, die an der Straße lag, die von Edo in die Provinz Kai führte. Im Grunde heißt Shinjuku nichts weiter als Neue (Post-) Station. Rund um den Bahnhof von Shinjuku, der übrigens eines der höchsten Passagieraufkommen der Welt aufweist, konzentrieren sich auf nur zwei Quadratkilometern das bedeutendste Kommerz- und Verwaltungszentrum Japans mit dem zweitgrößten Wolkenkratzerviertel des Landes. Gut 350.000 Menschen leben in Shinjuku, was nach Tokyoer Maßstäben nicht wirklich viel ist.


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Shinjuku ist außerdem der größte Einkaufsdistrikt Japans mit fast einem Dutzend riesiger Kaufhäuser. In diesem Stadtteil liegt auch der „Kaiserliche Park Shinjuku“, für dessen Besichtigung wir aber einfach keine Zeit mehr haben, was schade ist, denn der Park zählt zu den bekanntesten Parks in ganz Japan, vor allen Dingen zur Kirschblütenzeit. Doch man kann halt nicht alles haben. Darüber hinaus liegt auch der Bezirk Kabukicho in Shinjuku. Das ist das Größte und auch eines der ältesten Vergnügungsviertel Japans. Hier gibt es die meisten Kinos der Stadt, unzählige Restaurants und Kneipen und vor allem einem riesigen Rotlichtbezirk, mit seinen Love-Hotels und auch das Amüsierviertel für Schwule und Lesben. Leider haben wir auch für diesen Teil der Stadt einfach keine Zeit mehr. Aber, wir werden wiederkommen, so viel ist mal sicher. Aber natürlich haben wir ein Ziel in Shinjuku, wir wollen


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zur Omoide Yokocho. Versteckt in der Nähe des geschäftigen Westausgangs des Shinjuku-Bahnhofs liegt Omoide Yokocho, ein Labyrinth aus engen Gassen, das den Besucher in frühere Zeiten versetzt. Omoide Yokocho bedeutet für den Touristen übersetzt "Memory Lane". Das kleine Viertel steht in starkem Kontrast zu den hellen Neonlichtern und modernen Wolkenkratzern, die es umgeben, und wirkt wie ein Überbleibsel des alten Japans in dieser Umgebung. Rustikale, beengte Restaurants und Essensstände lassen Dampf, Rauch und Geplauder in die Gänge strömen, während sich die Gäste an kleinen Tischen und Theken zusammenkauern. Hier treffen sich Einheimische und Reisende gleichermaßen. Als wir den langen, massigen Glastürmen den Rücken zuwenden und in die Gassen eintauchen, sind noch nicht alle Restaurants geöffnet. Ab 17 Uhr sind überhaupt erst einige Kaschemmen geöffnet. Man bekommt interessanterweise sofort einen Blick dafür, wo reiner Tourinepp abgeht und wo authentishce Küche,


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Flair und Lebensgefühl geboten wird. Die Ursprünge von Omoide Yokocho gehen auf die wirren Zeiten kurz nach dem 2. Weltkrieg zurück. Während man versuchte aus den Trümmern den Wiederaufbau der Stadt zu organisieren, entstand in der Nähe des Bahnhofs Shinjuku ein, sagen wir mal vorsichtig - emsiger - Schwarzmarkt, deren "Händler" schwer zu beschaffende Lebensmittel, Getränke und Dinge des täglichen Bedarfs verbimmelten. Mit der Zeit entwickelten sich diese provisorischen Stände zu dauerhaften Fressbuden, die oft nur durch dünne Wände oder Vorhänge getrennt waren. Die "Restaurants der ersten (Schwarzmarkt-) Stunde" waren vor allen Dingen auf gebratene Schweine- und Rinderinnereien spezialisiert, da diese Produkte nicht rationiert waren. Aha, so so! Nix für Veganer hier - heute übrigens noch weniger, denn die Japaner lieben Fleisch und Fisch über alles . . .


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In den 60er Jahren wurde ein Teil des Marktbereichs durch den Bau des heutigen Bahnhofskomplexes Shinjuku platt gemacht. 1999, wie kann es auch anders sein, brach ein großes Feuer aus, das viele der dicht gedrängten, hölzernen und wohl auch baufälligen Läden zerstörte. Das Viertel wurde jedoch wieder aufgebaut, so dass viele Geschäfte ihre Herkunft und ihre traditionellen Rezepte, die sie bis in die frühen Nachkriegstage zurückverfolgen können, bis heute weiterhin produzieren können. Ich habe gelesen, dass die Lokale heute alle über eine ordnungsgemäße Lizenz verfügen, aber dennoch immer noch den rauen Geist und die pulsierende Dynamik der alten Schwarzmarktära versprühen. Natürlich sind solche historischen Enklaven gleichermaßen immer sofort bevorzugt angesteuerte Insel touristischer Glückseligkeit. In den letzten Jahren müssen die Busladungen erlebnishungriger Suchender nach dem wahren Japan erheblich zugenommen haben. Etliche Läden haben inzwischen daher Pappschilder aufgestellt, auf


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denen der neue japanische Willkommensgruss an den aufkommenden Massentourismus steht - "Japanese only!" Hier steppt in zwei Stunden sicherlich der Bär, doch für mich will der Funke irgendwie nicht überspringen. Wenn ich das Gefühl habe nicht willkommen zu sein, dann gehe ich einfach woanders hin. Ist vielleicht ein Fehler, aber ich kann mir vorstellen, wie zum Sonnenuntergang die Bussladungen japanhungriger Touris aus ihren Glaszäpfchen ausgespuckt werden und von findigen Guides in bestimmte Kneipen buchsiert werden. Natürlich hat der Ort seinen unbedingten Charme, doch ich vermute ein eklatantes Missverhältnis zwischen Einheimischen Besuchern und Touristen. So bleibt es bei einer sehr oberflächlichen Reise in die Vergangenheit von Tokyos kulinarischer Ursprünglichkeit. Wir müssen ohnehin ins Hotel zurück, denn das Packen wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen - so, bis wir alles Zerbrechliche sicher verstaut haben.


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Heute morgen machen wir noch einen schönen Abschiedspaziergang durch die Gassen von Ueno - hin zur Küchenbedarfsstraße - deren Name ich vergessen hab. In Tokyo fällt mir immer wieder auf, dass neben den krassesten 4 spurigen Straßen, die von unzähligen Glastürmen gesäumt sind, immer kleine ruhige Nebenstraßen und Gassen zu finden sind. Rund um den Ueno-Bahnhof finden sich ziemlich alte, schrägen und schiefe Häuser, die noch mit Kupferplatten verkleidtet sind und den verschlafenen Charme vergangener Tage versprühen. Dazu kommen kleine Shinto-Schreine, versteckte Restaurants, Tante-Emma-Läden, Kioske, verschiedenste Handwerkerbetriebe


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und, und, und. Wir mögen diese schlagartig einsetzende Stille der Gassen, die sehr verschlafen, in der sich aufheitzenden Morgensonne, vor sich hin schlummern. Menschen sehen wir kaum, was nicht weiter verwunderlich ist, denn es ist Montag morgen und vermutlich sind einfach alle zur Arbeit. Hinter den den kleinen, windschiefen Häusern erheben sich immer wieder die Silhouetten von Glas und Beton. Hier mutet das immer an, wie die Insignien des Geldverdienens. Wenn man darüber nachdenkt, das Tokyo heute das Industrie-, Handels-, Bildungs- und Kulturzentrum Japans ist, mit zahlreichen Universitäten, Hochschulen, Forschungsinstituten, Theatern und Museen, dann wird man sich schnell seiner unbedingten Größe bewusst. Mit zwei internationalen Flughäfen, Narita und Haneda, und als Ausgangspunkt der meisten Shinkansen-Linien ist es auch das Verkehrszentrum des Landes. Der Finanzplatz Tokio ist nicht nur der größte Japans, sondern zählt neben London, New York und Hongkong auch zu den fünf größten der Welt. Tokio erbrachte 2024 eine Wirtschaftsleistung von 2,055 Billionen US-Dollar. Unter allen Städten der Welt belegt dieser Moloch damit den 1. Rang im Geld scheffeln und wäre als eigener Staat gezählt unter den 20 (!) größten Volkswirtschaften der Welt. Zudem weist die Stadt ein hohes Preisniveau auf und lag in einer Studie 2014 auf Platz 9 der teuersten Städte weltweit. Ich möchte gar nicht wissen, was hier eine kleine Wohnung kostet, geschweige denn eine - für uns - normale Wohnungsgröße.


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Irgendwie bedaure ich, dass wir hier nicht mehr Zeit haben. Es gibt so viel zu entdecken. Kleine Restaurants, versteckt in Seitengassen, fernab vom Lärm der großen Boulevards und Menschenströme. Einfache Alltagsnormalistät. Warum das so ist, weiß ich nicht, doch ich mag in fremden Kulturen die einfache Alltagsnormalität. Natürlich haben uns auch die kulturhistorisch bedeutenden Plätze, Bauwerke und Orte sehr gefallen. Es ist immer ergreifend, wenn man an einem Ort ist, dessen Mauern den leisen Widerhall der Vergangenheit preisgeben und von Legenden und Mythen flüstern. Aber Tokyo ist einfach kein Ort, den man einfach besuchen kann. Seine schiere Größe von gut 630 Quadratkilometern, mit 37 Millionen Einwohnern, macht diese Metropole schon zu


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einem sehr spannenden und auch einschüchternden Ort. Wenn ich darüber nachdenke, dass hier ein Kaufhaus steht, dass es schon auf den Holzschnitten von Hiroshige gab, dann schlackern einem die Ohren, so im kulturhistorischen Sinne. Bei uns feiert man schon das 100 jährige Bestehen eines Kaufhauses, während hier noch Häuser aus der Edo-Zeit existieren. Das Nihombashi Mitsukoshi existiert schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts. Da hat man in meiner westfälischen Heimat noch an den Nachwehen des 30 jährigen Krieges geknackt . . . Es ist erstaunlich, was man alles sieht, wenn man sich an den Rhythmus einer Stadt und eines Kulturkreises gewöhnt hat. In den ersten Tagen unserer Reise, wären mir diese ganzen Beobachtungen vermutlich nicht gelungen, war mein Gesit doch erst einmal mit dem groben Abläufen dieser Gesellschaft beschäftigt. Doch nun finden wir hier zwischen Ueno und Asakusa - wir sind ja auf dem Weg zum Schrein Seno-ji - immer wieder kleine Stadtdetails, nenne ich das mal, die uns sehr berühren . . .


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Aber, nun gut, wir müssen los. Als wir im Sky Train nach Haneda sitzen, haben wir noch einmal Gelegenheit Tokyo aus einer anderen Perspektive zu betrachten - von oben, aus der Sicht einer Hochbahn . . . Wir werden wieder kommen! Sayonara!


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