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KAbuki, KAbuki . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • vor 2 Tagen
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 4 Stunden

Depesche 30 - 16.08.2025 - Tokyo



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In Tokyo ist alles gefährlich, so viel ist mal sicher! Man kann beispielsweise nicht einmal eine Kreuzung überqueren, ohne, dass ein trällernder Pfeifton erschallt. In gemäßigter Lautstärke, versteht sich! Wir sind schließlich in Japan, im Lande der Harmonie und der unbedingten Vermeidung, dem Nächsten in irgendeiner Weise zu Last zu fallen. In der Metro gibt es pausenlos Ansagen. Wenn die Türen aufgehen, wenn die Türen schließen, wenn man den Waggon betritt, wenn man den Waggon verlässt, auf dem Bahnsteig, unter dem Bahnsteig, über dem Bahnsteig, wenn man den Bahnsteig betritt, wenn . . . Durchsagen, Durchsagen, Durchsagen. Nun, da alles in der japanischen Sprache dargeboten wird, vermute ich nur, dass es Sicherheitswarnung, Sicherheitshinweise, Sicherheitserinnerungen oder gar Sicherheitsübungen sein könnten. Vielleicht ist es nur Entertainment, so Mobilitätsunterhaltung. Da ja in der Metro kaum gesprochen wird, kann das ja ein satirisch ausgerichteter Kommunikationsanlass sein, die Fussballergebnisse vom 1. FC Osaka gegen 1869 Shinjuku, wer weiß das schon? Überall ists gefährlich hier. Nach einer gewissen Zeit nimmt man jedoch diese Sprechchöre der amtlichen Sicherheitswarnungen nicht mehr so wahr. Betritt man aber touristisches Neuland, erschallt sofort eine warnende Stimme aus dem Orbit, die warnt. Wo vor die Stimme warnt, ist für uns nicht immer ersichtlich. Wenn man in einen Aufzug einsteigt, ertönt eine Stimme, wenn man aus einem Aufzug . . . Was soll ich sagen. Beim Betreten eines Supermarktes ertönt ein auditives Signal. Auf den Bahnsteigen ertönt eine Melodie, die das Ende der Einsteigphase in den Waggon ankündigt - übrigens auf jedem Bahnhof eine andere Melodie. Wenn man jetzt mal so einen durchschnittlichen Sightseeing Tag nimmt, wurde man als Reisender ganz schön bejallert. Da kann das ruhige, stetige Rauschen der Klimsie im Hotelzimmer schon mal dem Besuch eines abgelegenen nepalesischen Bergtempels gleichkommen, so im mantrischen Sinne. Sehr angenehm ist im Gegenzug aber, dass die Sicherheitwarnungen nicht in der unsrigen Schilderflut gipfelt. Der geneigte Leser erinnert sich bestimmt an die Wolbeckerstraße, wo auf 100 Metern Straßenabschnitt etwa 40 große Schilder stehen, die einem anzeigen, was Radfahrer alles dürfen und die andere Hälfte zeigt an, was Autofahrer alles nicht dürfen. Das ist hier wohltuend anders. Zwar existiert hier auch der Drang, die Gesellschaft mit betreutem Denken zu lenken, doch es passiert nicht über Schilder. Radwege werden einfach per Icon auf die Fahrbahn gesprüht und schon ist für alle ersichtlich, seht her - hier gibt es auch andere Teilnehmer. Schwpps - und schon fährt man dementsprechend - Radfahrer wie Autofahrer - geht doch! Der Rest des öffentlichen Lebens in Japan ist ungemein gefährlich. Denn alle tragen Helm. Man ist so im Flachland, kommt an eine Baustelle und da steht ein Verkehrsregler, der trägt Helm. Weit und breit kein Bagger, Krahn o.ä., Helm! Übrigens hatte ich vergessen zu erwähnen - so Kawaii-mäßig: Auf der Landstraße von Kanazawa ans Ostjapanische Meer, passierten wir eine Baustelle und der Komatsu-Monster-Bagger hatte auf seinem riesigen, gelb lackiertem Greifarm so ein Giraffenmuster aufgesprüht. Sah sehr süß aus, dass muss ich zugeben. Doch zurück zur Gefahr. Wenn ein Mannschaftswagen der Armee - offiziell hat Japan seit 1945 keine Armee - vorbeifährt, haben alle ihren Helm auf. Auch der Fahrer. Was ich krass finde, denn ich würde verstehen, wenn sie das in Jakarta, Delhi oder Bangkok machen würden - so verkehrsmäßig. Aber hier? Der Fahrer eines Krankenwagens - Helm auf. Bestimmte Polizeifahrzeuge, Helm auf bei der Fahrt. Bei Bauarbeitern verstehen ich das ja - so im Hochbau, aber wenn der Zulieferer von Schotter auf die Baustelle fährt, . . . Helm auf! Technische Mitarbeiter der Metro tragen Helm, beim Wechseln der Neonröhre . . . Was soll ich sagen, Japan ist ein gefährliches Pflaster, so viel ist mal sicher.


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Wir erreichen heute Morgen Ginza unbeschadet, obwohl wir keinen Helm aufhatten und trotzdem mit der Metro gekommen sind. Ums Eck von der Ginza Station liegt das Kabuzika, das große Kabuki-Theater von Tokyo, das schon seit 1889 existiert. Das Gebäude ist nicht mehr original - es ist schon der 5. „Neubau“ - denn die Japaner sind da ja mehr pragmatisch als historisierend. Also, wir gehen ins Theater. Es gibt drei Aufführungen pro Tag, die morgendliche haben wir verpennt - 09:15 Uhr, lächerlich, wir haben Urlaub - die zweite um 12:39 (!) - kein Witz die Zeitangabe - und um 18:30 Uhr, die jedoch ausverkauft ist. Also gut, 12:39 Uhr soll es sein. Wir haben noch gut eine halbe Stunde totzuschlagen und gehen schon mal in den Theatershop. Da kann man Bento-Boxen bekommen, Gebäck, Schauspielerdevotionalien, Fächer und allerlei Klimbim, rund um die Kabuki-Aufführungen. Kabuki ist sehr japanisch, wirklich. So aus der Rückschau gesehen, meine Ohren klingeln immer noch, es ist sehr anders. Obwohl es Tonlagen bei Verdi oder Puccini gibt, die mich auch sehr an die Schreie erinnern, die aus einem zahnärztlichen Behandlungszimmer dringen. Gut, zurück zum Kabuki-Theater. Das ist eine traditionelle japanische Theaterform, die Tanz, Schauspiel und Musik kombiniert. Aha, so so. Ist was für die Augen, denn es gibt aufwendigen Kostüme,


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dramatisches Make-up - das sogar die Rockgruppe KISS neidischen machen würde - und stilisierten, formalistischen Gesten, die die Japaner aber alle kennen und sie in höchste Verzückungen versetzt. Also, alles sehr opulent. Die bei uns so hochgefeierten, minimalistischen Bühneninszenierungen - eine verbeulte Mülltonne, eine Parkbank und ein Halbnackter, verkleidet mit einer Alditüte, der dann 3 stündige Schwachsinnsmonologe, als intellektuelle Highlights monoton herunterleiert und sich anschließend von einer bornierten, affektierten pseudointellektuellen Besuchergruppe feiern lässt - sind hier nicht angesagt. Hier wird mit Schminke um sich geworfen, Kostüme in großer Farbenpracht angelegt und herzschmerztechnisch alles gegeben, so viel ist mal sicher. Wir finden Einlass - 12:05 Uhr - sehr langweilig. So 12:03 Uhr wäre ja in Anbetracht, dass die Show um 12:39 Uhr beginnt, irgendwie plausibler gewesen. Aber Kabuki hat nichts mit Plausibilität zu tun, sondern mit dem ordentlichen Leben. Wir sitzen ganz oben, da, wo die Plebejer sitzen. Schließlich ist Samstag und da geht der Japaner als solcher gerne mal traditionell gewandet ins Theater, mit Schirm, Kimono und Bento-Box. Kaum sitzen die ersten Zuschauer, und das Klappern der Essstäbchen geht los, geschmortes Huhn, eingelegter Rettich und Ingwer mit gerolltem Rührei. Dazu ein Schlückchen Sake, während hinter dem gestreiften Vorhand die Bühnenbildner noch fuhrwerken. Ein Satz zu den


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Bühnenbildnern. Wie alles in Japan, was einen historischen Bezug in unsere Gegenwart hat, werden traditionelle Arbeiten immer noch angelernt und professionalisiert, auch im hyperperformenden Digitalalltag. Die Bühnenbildner müssen während der Aufführungen in Windeseile ganze Szenenwechsel hinbekommen, sodass dieser Beruf wohl extremstes handwerkliches Geschick erfordert und daher die Jungs in Japan sehr angesehen sind. Alle mampfen fröhlich ihre mitgebrachten oder bestellten Chicken Nuggets - es gibt extra Kabuki-Theater-Caterer - so dass wir ein wenig Zeit haben und die ganze Szenerie zu beobachten können. Gut 2000 Besucher gehen in das Theater und es wird voll ausverkauft sein. Hatte man uns gesagt. Glauben kann ich das nicht so richtig, aber, wer weiß das schon? Inzwischen ist ein bemalter Theatervorhand leise herab gelassen worden, der einen überdimensionalen Fuji-san zeigt. Das darf ich noch selbst fotografieren, während der Aufführung ist fotografieren, filmen, essen und trinken dann untersagt. Alle Bilder von Schauspielern sind nicht von mir, nebenbei erwähnt. Daher spachteln alle wie die Geier, denn die rückwärts laufenden Uhr zeigt nur wenig Zeitintervall für die Nahrungsaufnahme an. Etwas vorweg:


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Kabuki entstand im frühen 17. Jahrhundert, wohl in Kyoto - wo auch sonst - und entwickelte sich zu einer beliebten Kunstform für alle Gesellschaftsschichten. Anfang des 17. Jahrhunderts hat eine junge Dame mit ein paar anderen Mädels so ein bisschen Comedy dargeboten und auch ein paar - religiöse - Tänze eingebaut. Die Dame Okuni war eine Miko - übersetzt Schreinmädchen - weil sie ihre Stücke in der Nähe eines Schreins aufführte. Erfolgreich wurde sie aber erst, als sie die religiös geprägten Tänze mit erotischen Gesten erweiterte. Daher der Name Kabuki - „kabuku“, japanisch für „schockierend“. Die Sache lief, andere Theatergruppen übernahmen das Konzept und die Sache lief aus dem Ruder. Es muss dann da zu Auswüchsen gekommen sein, - so Sex-Sachen - dass die Obrigkeit die Frauengruppen verbot. Wies halt so ist, wenn Frauen was erfolgreich hochziehen, kommt irgendwann man ein Mann


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vorbei und die Sache geht den Bach runter . . . Aber auf die schlüpfrigen Stories wollte man nicht verzichten und fortan gab nur noch das „Jünglings-Kabuki“. Tja, bei dem Konzept der jungen Männer traten aber die gleichen Schwierigkeiten auf und das Verbot des Shogunats erstreckte sich dann auch auf die Jungs. Danach gab nur noch das „Kerl-Kabuki“, bis heute. Alle Rollen werden nun von Kerlen gespielt und die Geschlechtertrennung auf der Bühne läuft hauptsächlich über winzige Details in der Körpersprache ab, das Mie. Gut, neben den Kostümen und der vielen Schminke. Kabuki zeichnet sich also durch stark stilisierte Bewegungen, Gesten und Mimik aus, was wir jetzt durchaus bestätigen können. Die Männer, die Frauenfiguren darstellen, werden Onnagata (onna - japanisch für „Frau“) genannt und sind in Japan ziemliche Stars. Kabuki ist inzwischen - seit 2005 - Teil des UNESCO-Welterbes, nur nebenbei erwähnt.


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Inzwischen hat die Uhr fast ihr 0-Ziel erreicht, die Bude ist bis auf den letzten Platz ausverkauft, die Bento-Boxen sind leer schnabuliert und verstaut. Es gibt noch ein paar Sicherheitshinweise, dargeboten, wie im Flugzeug und dann erlischt das Licht. Vorhang auf! Mucke läuft an. Von einem 12 köpfigen Orchester, was in traditioneller blauer Samureigewandung, auf tiefrot lackierten Podesten hockt. 4 Sänger, 4 Samisen-Zupfer und 4 Trommelassistenten. Die Bühne, eine gemalte Weidenlandschaft. Tschingbummrassa gehts los. Gesang und Musik eher quälend melancholisch bis schräg, eher Zahnschmerz vortäuschend. Aber ich mag das, ohne Frage. Auftritt die Geisha - zumindest vermute ich das - denn während uns Hören und Sehen vergeht - so musik- und gesangstechnisch - wir verstehen ja nix. Sie ist aber irgendwie gequält, die Ische ganz in violett. Lange gequält, wir auch! Auftritt, die rothaarigen Zwillinge. Keiner von den Weasleys, auch wenn in Harajuku seit zwei Tagen ein neuer Harry Potter Shop eröffnet hat. Die rothaarigen Zwillinge haben goldene Kimonos an, weiße Söckchen und eine ziemlich verkniffene Visage. Was so abgeht auf der Metaebene, können wir nicht beurteilen. Verstanden haben wir aber, dass das Mie, die wichtigste Sache beim Kabuki ist. Mie sind die kleinen Gesten, die den Charakter der Figuren unterstreichen sollen.


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Besonders, die weiblichen, weil hinter der Schminke ja ein Kerl hockt, der wie eine Frau gestikulieren soll. Toll, das ist sehr witzig. Wenn man mal begriffen hat, worauf man achten soll, machts Spass. Der Gesang halt nicht so. Wir sind ´jetzt Gesten-Profis. Seit unserer Kabuki-Session kombinieren Anni und ich jetzt - nur in unbeobachteten Momenten, versteht sich - das indische Kopfwackeln mit den ruppigen Kabuki-Nickbewegungen der rothaarigen Zwillinge. So, um unser Missfallen auszudrücken oder auch anerkennend in der Metro, wenn wieder eine junge Cos-Playerin mit Spockohren und einem Herbert-Straßen-Outfit neben uns Platz genommen hat. Man kann Kabuki-Theaterstücke so in drei Kategorien einteilen: Jidaimono (historische Dramen), Sewamono (bürgerliche Dramen) und Shosagoto (Tanzstücke). Daher die drei Aufführungszeiten des Tages. Wir sind natürlich in der Tanz-Nummer gelandet. Ich hätte ja so eine zünftige Messerstecherei aus Samuraizeiten präferiert, aber die Stücke sind alle ausgebucht. Es gibt zwei Akte, deren Musik und Gesang mehr so an den JEKI-Unterricht an der Grundschule erinnert, aber das Beobachten des Mie ist sehr lustig.


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Natürlich ist anschließend nix mehr mit uns anzufangen, den unsere Synapsen sind nicht mehr geeignet, um im Hochglanz-Ginza durch die Guccipucci-Filialen zu wandern. Ginza ist einer der ersten und damit auch ältesten Stadtteile Tokios. Im Jahr 1612 wurde hier wohl eine Silbermünzstätte gegründet. „Gin“ ist die japanische Silbe für „Silber“, von der sich der heutige Name Ginza ableitet. Nachdem Ginza 1872 vollständig niederbrannte, wurde die Gegend von zwei britischen Architekten komplett neu aufgebaut. Sie verbreiterten die Straße von 12 auf knapp 30 Meter, errichteten breite Bürgersteige mit Gaslaternen und europäisierenden Gebäuden. So entstand hier, nach Pariser oder Londoner Vorbild, die erste japanische Flaniermeile. Ginza hat die höchsten Grundstückspreise der Welt. Mich persönlich spricht das nicht so an, denn die globalen Flaniermeilen sind alle gleich und damit irgendwie auch langweilig. Die Dichte der Supernobelmarken ist in Tokyo derartig hoch - habe noch nie so viele Chanel, Cartier, Hermes, Gucci, … Filialen gesehen, wie in Tokyo. Wenn man das mal so als Maßstab nimmt, dann scheinen Louis Vuitton Täschchen hier mehr so bürgerliche Dekorationen zu sein. Verglichen mit dem Rest von Japan, dem man die wirtschaftliche Rezession deutlich ansieht, ist das hier schon ganz schön hedonistisch. Samstags Nachmittags wird die Ginza für den Autoverkehr gesperrt, was natürlich schön zum Schlendern ist, aber es bleibt eine breite Glasturmstraße - langweilig. Konbanwa folks.


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