Halb so wild . . .
- Ingo

- 8. Aug.
- 6 Min. Lesezeit
Depesche 21 - 07.08.2025 - Von Osaka nach Nara

Es regnet. Es regnet richtig! So pladdern, wie der Westfale sacht. War aber angekündigt. Nun, jetzt soll der geneigte Leser mal nicht aufs schmale Brett kommen und denken, nu´ wirds kühler - keineswegs! Es hat so was von Brötchen aufbacken, wenn man unten im Ofen noch etwas Wasser aufs Blech gießt, das mit die Kruste schön knusprig wird. Wir sind inzwischen auch ziemlich knusprig und eine Dusche muss her. Irgendwo in der Nähe von Nara gibts einen Mischi no eki, wo ein Olsen angegliedert ist. Aha, so so - nach Nara wollen wir ohnehin, so wegen der Hirsche . . .
Im strömenden Regen verlassen wir Osaka auf kleinen Nebenstraßen, die in die Berge führen. Nur nicht wundern, wenn ich diesen Satz häufiger benutze, denn 70% von Japans Landoberfläche besteht aus Bergland. Daher gehts immer irgendwie rauf und runter. Aber schön. Denn manchmal stehen die Berge sehr nah beieinander und dann fährt man durch malerische Täler und Dörfer. Unvermittelt verschwinden wir heute in den Wolken, denn selbige hängen regenschwer tief über den Bergspitzen. Nara ist grad mal 34 Kilometer von Osakas Stadtgrenze entfernt, und daher ein MUSS für jeden Osaka-Besucher, der noch einen kulturellen Tagestrip plant.


Während wir da so die kurvigen, engen Straßen rauf und runter gondeln, versuche ich in meinem derzeit kulturell völlig überlastetem Hirn, die Basis-Infos von Nara abzurufen. Irgendwann im vergangenen Jahr habe ich mal für unsere Reiseroute recherchiert und etliches gelesen. Leider kann ich so spontan im Vorfeld nicht mehr so viel abrufen. Nur soviel, zwischen 700 und 800 - na ja, so pi mal Daumen halt - war Nara die Hauptstadt Japans. So richtig mit Tenno, Kaiserpalast, jede Menge Schreine, Tempel und Horden von Sikahirschen. Natürlich auch die ganze Weltkulturerbe Nummer, ecetera pp.. Also hochwertigstes Zentrum für noch hochwertigere Kultur, wie Kunsthandwerk, Architektur, Spiritualität und Lebensart. Außerdem ist es damit natürlich auch ein touristisches Nadelöhr, nicht so sehr, wie Kyoto, aber nahe dran, so viel ist mal sicher. In gewisser Hinsicht wird es vermutlich schlimmer, als in Kyoto. Nun, nicht anzahlmäßig, mehr so verhaltenstechnisch. Warum? Weil es Kultur mit Tieren ist und aus Erfahrung unseres Asienjahres, ist alles was mit Asiaten und Tieren zu tun hat, immer ein Graus. Vornehmlich bei Chinesen. Was soll ich sagen? Nun gut, wie kommt dieses merkwürdige Phänomen zustande. Irgendwann einmal, wieder mal zu der Zeit, als alle noch lange graue Bärte hatten, kam eine Göttin auf einem Hirsch in die Stadt Nara. So, Ende der Basis-Infos. Das ist der Grund. Die Olle kam auf einem Hirsch, statt mit einem


zünftigen Zossen oder einer Kutsche, so weit so gut. Doch seid dem sind die Einwohner von Nara ganz jeck auf alles was Hirsch ist. Da ich biologisch nicht so bewandert bin, lasse ich den Terminus Technicus Hirsch mal für beiderlei Geschlecht stehen, wenns recht ist. Japan hat nun überall im Land große und kleine, schöne und hässliche, teure und billige, bekannte und unbekannte Schreine, so das Nara damit allein wohl nicht punkten konnte bei der erlebnishungrigen Reisemeute. Also musste ein Alleinstellungsmerkmal her - genau - die Sikahirsche. Von denen leben ca. 1000 Exemplare im Nara-Park, so heißt das Gelände, wo sich fast alle wichtigen Kulturbauten in Nara tummeln. Nun tummeln sich da vor allen Dingen zusätzlich auch noch Horden von Touristen, die so tun, als hätten sie noch nie aufm´ Kettler Hof, Sonntags Nachmittags das Dammwildgehege besucht. So ungefähr muss sich der geneigte Leser die Situation vorstellen, und es riecht auch so.



Wir parken unseren Bulli auf einem netten kleinen Parkplatz, den die beste Pottprinzessin von allen aufgetan hat. Dort verweilen wir ein wenig, denn der Wetterbericht verspricht halbwegs Sonne für den frühen Nachmittag. Im Klartext, wir hauen uns aufs Ohr und schlummeln eine Runde, denn die vergangene Nacht in Osaka war so schwül, dass wir beide vor lauter Hitze nicht so richtig ausgeruht sind. Die Japaner, die ebenfalls die Park & Sleep-Parkpläte nutzen, lassen ALLE über Nacht den Motor laufen, damit die Klimaanlage laufen kann. Krass, oder! Machen die Prinzessin in Sachen Müll, aber kollektiv Nachts die Schleuder laufen lassen, damit man nicht schwitzen muss. So viel zur Nachhaltigkeit. Wir machen uns auf den Weg zum Laternen-Schrein, dem Kasuga-Taisha-Schrein. Der alte Tempel hat eine bewegte Geschichte, denn einer seiner Vorläufer wurde bereits 768 gebaut. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Schreine turnusgemäß abgerissen wurden, um dann größer und schöner wieder neu errichtet zu werden. Manchmal soll es sogar feste Intervalle von max. 20 Jahren gegeben haben. Ob das so stimmt, kann ich nicht sagen, da müsste ich unter Michelsens „Einführung in den Kasuga-Taisha-Shrine“ nachlesen. Im Grunde ist er







wie die typischen Edo-Schreine, die wir auch schon in Kyoto gesehen haben. Weiße Fachwerkgefache mit Zinnoberrotem Gebälk und geschwungenen Walmdächern darüber. Wären da nicht die gut 1000 Steinlaternen, die den bewaldeten Weg zum Tempel säumen. Die Laternen sind stark bemoost und stehen in Gruppen entlang des Waldrandes, was dem Zugang einen recht mystischen Anstrich verleiht. Und nun nehmen wir die Zutaten, die man braucht, um ein kleines infernales Touristenspektakel zu veranstalten. 1. Man nehme 1000 Sika-Hirsche und lasse sie im großen Tempelbezirk frei rum lungern. 2. Man nehmen nun eine überaus große Batterie an motorisierten Glaszäpfchen, angefüllt mit bis zu 100 Touristen, überwiegend aus China und Italien. 3. Man nehme ein Kontaktmittel, um die Kommunikation zwischen Mensch und Tier herzustellen, bzw. zu vereinfachen. Richtig. Hirschkekse, aus Weizen und Kleie, das Kleinstpaket zu 200 Yen. Jetzt konditioniere man das pelzige Getier, mit sehr großen dunkelbrauen Augen, auf diese Hirschkekse - sagen wir mal so gut ein Jahrzehnt lang - damit sich auch alle Generationen der 36-Ender an das Zeug gewöhnt haben und es auf ihrer täglichen Speisekarte nicht mehr missen wollen. Nun treibe man die Touristenmeute, bewaffnet mit jeder Menge von spottbillig zu habenden Hirsch-Keksen, auf die Hirschmeute zu, die schon erwartungsvoll, mit großen dunklen Augen und wedelndem Schwänzchen, auf einen zu getrabt kommen. Der Rest sieht eigentlich aus wie in jedem Asterix Heft, wenn Gallier auf Römer treffen. Da




sieht man kleine dickliche Nachwuchskommunisten aus Beijing, Hong Kong oder Shanghai, die von einem Rudel Hirsche in die Ecke eines historischen Kulturbaus gedrängt werden. Italienische Rentnerinnen, denen massiv in den Gesäßmuskel gebissen werden, um die Herausgabe der Dosis Hirsch-Keks zu unterstreichen. So ein Bock kann da auch schonmal empfindliche mit seinem Geweih Nachdruck signalisieren, wenn er so auf Weizenkleie-Turkey ist. Natürlich sehen die Hirsch süß aus und besonders der ein oder andere Hirsch, der gelernt hat, wenn er durch Kopfnicken eine Verbeugung darstellt, ist der Weizenkleie-Segen gewiss. Durch diese Story mit der Göttin gelten die Viecher den Japanern als heilig und werden als Helfer der Götter verehrt. Was soll ich sagen? Seit 1957 sind sie sogar als „nationaler Schatz“ besonders geschützt. Verrückte Welt. Die Stadtverwaltung hat den Gehörnten offiziell den Titel „wildlebend“ verliehen. Davon kann aber de facto kaum noch die Rede sein, bei all den fütterungstechnischen Dramen, die ich netterweise auch auf Film bannen durfte. Inzwischen sind die so auf die Kekse konditioniert, dass anschließendes Streicheln nur bei ausreichender Keksanzahl geduldet wird. Keine Kekse, kein Streicheln und das auch nur in minimalstem Maße. Seit 2013 gibt es sogar eine offizielle Verletztenstatistik in Nara. Allein 2018 soll es wohl 200 Verletzte gegeben haben, also Touristen. Es sind wilde Tiere, die nur nebenbei süß aussehen. Über das Verhalten von jungen Böcken in der Brunftzeit möchte jetzt mal gar nicht nachdenken. Wie gesagt, alles halb so wild.
So, der geneigte Leser muss sich jetzt selbstständig immer 1-25 Sikahirsche in seinen geistigen Visualisierungen dazu denken, denn nachfolgend werde ich das Getier nicht mehr so erwähnen. Man riecht sie überall, man sieht sie überall und sie scheißen auch überall hin . . . So, das musste mal so klar gesagt werden.


Im Tempel bereitet man sich auf das Chugen-Mantoro-Matsuri Fest vor, was kommende Woche in Nara, besonders in diesem Schrein stattfindet. Das Fest der Beleuchteten Laternen beginnt am 15 August, wo wir leider schon in Tokyo weilen. Dabei wird, unter viel Singen und Klatschen das Entzünden der 1000 Steinlaternen und der etwa 1500 Blechlaternen gefeiert, die im Tempelbezirk aufgehängt sind. Da die meisten Touristen ja nun ausschließlich zur Wildtierfütterung gekommen sind, ist es auf dem Schreingelände recht ruhig und auch ziemlich leer. Besonders schön haben sie eine kleine Dunkelkammer eingerichtet, in den beleuchtete Laternen hängen. Das soll dem Besucher einen Eindruck vermitteln, wie die Atmosphäre ist, wenn die Laternen entzündet werden.





Natürlich bietet Nara, als ehemalige Kaiserstadt eine Vielzahl an historischen Gebäuden, doch einen intakten Kaiserpalast hats hier nicht mehr. Vom Urpalast stehen nur noch die Grundmauern und lediglich ein Gebäude der Anlage ist erhalten. Das streichen wir vom Plan, denn nach unserem Kyotoer Kaiserpalastmarathon sind wir bis Tokyo erst einmal raus, was royale Palais angeht. Doch der Todai-ji Tempel interessiert uns sehr. Ein bisschen ist jetzt das Leistungsverzeichnis des Bauwerks in wanken gekommen. Er ist etwa 50 Meter hoch, 50 Meter tief und knapp 60 Meter breit. Bis zur EXPO galt der Todai-ji als das größte aus Holz gebaute Gebäude der Welt . . . Nun ja, den Titel hat sich jetzt ja der Grand Ring auf der EXPO geholt. Aber immerhin beherbergt dar Backs immer noch den größten Bronze-Buddha der Welt! Aha, so so! Da gibts keine neueren Erkenntnisse. Das Figürchen ist 15 Meter hoch und wiegt gut 450 Tonnen. Kein leichter Junge, der Gute! Das Gebäude ist sehr sehenswert und beeindruckt natürlich schon von weitem durch seinen Dimensionen. Allein die riesigen Türen, die man durchschreiten muss, sind schon dazu gemacht, dass der Besucher sich ganz klein fühlt. Also nicht schlecht für einen Bau von 745. Grund für den Bau war eigentlich eine verheerende Pockenepidemie (735-737), die Japan heimsuchte. Damit man gegen zukünftige Epidemien gewappnet sei, sollten überall im Land große Buddhafiguren errichtet werden, so als Gegenmittel quasi. Ob geholfen hat? Fragen über Fragen des Orients. Konbanwa folks!




