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Der kleine Samurai . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • vor 4 Tagen
  • 6 Min. Lesezeit

Depesche 27 - 13.08.2025 - Von Chiba nach Tokyo



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Vor dem Bahnhof in Ueno steht ein Polizeifahrzeug. Respektabel - distinguiertes schwarz-weiß, mit großen roten Blinklichtern auf dem Dach, die sich in einem mantrischen Tempo drehen und amtliche Aktivität ausstrahlen. Von den beiden Herren, in dunkelblauer Uniform, mit Splitterschutzweste, Kampfstiefeln und Kurzwaffe an der Hüfte, ist weit und breit nichts zu sehen. Warum auch, denn die Menschenmassen, die dem Bahnhofsgebäude von Ueno entströmen, sind ruhig und äußerst diszipliniert. Der Verkehr fließt ruhig - kein Wunder, lange Ampelphasen und max. 30 km/h pro Stunde. Wir suchen unser Hotel. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht alle, mir sich bietenden,

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neuen Informationen aufzusaugen suche. Da fällt mein Blick auf die Seite der massigen roten Blinklichter der absenten Staatsmacht. Dort klebt ein lustiger kleiner Aufkleber. Zunächst denke ich, wow, da hat ein mutiger Microanarchist einfach einen lustigen, niedlichen Sticker hingeklebt. Natürlich in einer unbeobachteten Sekunde des Tokyoer Nachtlebens. Was, lieber Leser, natürlich vollkommen absurd ist, denn Tokyos digitale Augen schlafen nie. Überall gibt es Kameras, eine Menge Kameras, um nicht zu sagen eine unzählige Zahl an Kameras. Also war es kein Japaner mit Anarchotendenzen, sondern die amtliche Staatsmacht selbst. Aha, so so! Dafür haben die Japaner ein Wort: Kawaii. Alles wird verniedlicht. Alles. Vom Baustellenschild, über Firmengebäude, an Kliniken, in der Metro, in Supermärkten . . . einfach überall tauchen maskottchenhafte, höchst verniedlichte Männchen, Tierchen, Fabelwesen, Roboter, Fantasietiere und-ich-weiß-nicht-was-sonst-noch-alles, was verniedlicht werden kann. Wenn man so verträumt mit seinem Bulli an einer Landstraßenkreuzung hält und dem Ende einer ultralangen Ampelphase entgegenfiebert, da kann dann schon mal so ein japanischen Mopedrocker neben einem halten. Und dann, lieber Leser, könnte die Ampelphase nicht lang genug sein. Da steht er dann, so bei 40 Grad und 80% Luftfeuchtigkeit in schwerem schwarzen Leder, auf seiner 400 Kilogramm schweren, raumschiffartigen Harley-Davidson Electra Super Glide 2, mit bissigem Flammenmuster, lackiert auf Tiefschwarz glänzendem Lack. Auf den motivgleich lackierten Koffern baumeln zwei pinke, Strassstein bespickte Plüschfabelwesen, in der Losbudengröße vom Jahrmarkt. Einfach so. Meist haben die schweren Jungs dann auch noch vergleichbare Kleinformate selbiger Figur an der Kutte hängen, die bei 40-50 km/h widerborstig im schmalen Fahrtwind am schweren Leder zerren. Man steht vor einer Baustelle und die offiziellen Absperrungstraversen werden von niedlichen, hüpfende Kunststoffpandas gehalten. Diese Halterungen gibt es in ganz Japan - mal als Fabelwesen, mal als Super Mario, mal als Power Ranger, mal als Waschbär, . . . Überall wird verniedlicht, verlustig oder ikonisiert. Kawaii heißt eigentlich übersetzt, „niedlich“ oder auch „liebenswert.“ Doch in Japan ist das national ein Bestandteil des öffentlichen und natürlich auch des privaten Lebens. Gestern Abend saßen wir in einer „Bierkneipe“ und am Nebentisch hockten drei Sarariman, in weißem Kurzarmhemd, mit schwarzer Hose und der obligatorischen Aktentasche. Formaler gehts nicht, dann klingelte das Handy des - offenkundigen - „Chef" des Trios - also des, in der Firmenhierarchie höhenwertigen Mitarbeiters - und siehe da, die gesamte Pokemonriege baumelte da im Miniaturformat an seinem iPhone 15+, das auch noch in einer Mangahülle steckte. Wenn man so in der Metro sitzt oder im Bus oder an der Ampel wartet und sein Umfeld beobachtet, dann ist die gesamte japanische Gesellschaft durchzogen vom Prinzip des Kawaii. Wenn ich mich richtig erinnere, ist dieser Trend irgendwann in den 50er/60er Jahren entstanden, tatsächlich als „anarchistische“ Gegenbewegung zu den starren Lehrplänen im Bildungswesen, als auch die Comic-Kultur in Japan noch in den Kinderschuhen steckte. Heute ist das Prinzip des Kawaiis in Japan ein völlig normaler Bestandteil des Lebens. Eigentlich war das „nur“ ein Trend, um „die Kindheit etwas zu verlängern“, bevor ein Jugendlicher in das erwachsene, starre und besitzergreifende Gesellschaftssystem dieses Landes mündete. Was soll ich sagen, Kawaii macht vor nichts halt. Selbst vor dem altehrwürdigen Stadtmuseum in Kanazawa steht ein niedlicher goldener Samurai und weist den Weg zu den historisch gewichtigen Artefakten, die von Kanazawas ernster Stadtgeschichte künden. Aha, so so!


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Heute Morgen haben wir unseren treuen Bulli bei Japan Campers abgeliefert- so super sauber, dass die Jungs richtig erstaunt waren und uns so alle, immer anfallenden Reinigungskosten, wie Wäschereinigung etc.. Irgendwie geben wir den Wagen schweren Herzens ab, denn für uns(!), ist das die beste Art gewesen, Japan zu erkunden. Wenn der geneigte Leser Japan besuchen möchte, können wir ihm eines mit auf dem Weg geben, in Japan geht nichts schnell. Natürlich sind die Shinkansen super schnell, man ist bspw. in unter zwei Stunden von Tokyo nach Kyoto gebraust oder in 15 Minuten von Osaka nach Himeji. Doch wenn man in kurzer Zeit nur die „wichtigsten“ Landmarks sehen möchte, kann die Organisation und der Urlaub ziemlich stressig sein. Man hat immer das Gepäck anne Hacken, muss vom Bahnhof zum Hotel kommen und da fängt es schon meist an. Was nützt es, wenn man morgens um 8 mit dem Shinkansen von Tokyo aus um kurz nach 10 in Osaka am Bahnhof steht und erst um 15 Uhr einchecken kann - was hier überwiegend Usus ist. Dann muss man vom Hotel per öffentlichen Verkehrsmitteln zu den


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Sehenswürdigkeit hinkommen und zurück. Geht alles problemlos - keine Frage, nicht zuletzt, weil der ÖNVP so super organisiert ist. Aber kostet Zeit. Der Bulli hat uns immer direkt überall hingebracht und - außer vielleicht in Kamakura - die Parkplätze kosten hier, vergleichsweise zu uns, nichts. Die Shoppingbesucher von Düsseldorf oder Köln wären entzückt, wenn man so 24 Stunden Parkplätze für 700-1000 Yen bekommen könnte. Dass sind so 4 Euro bis 5,80 Euro. Außerdem haben wir so tolle Fahrten und Erlebnisse durch das eigentliche Japan machen können, weitab von Glitzer, Shopping und den international besuchten Touristenzielen. Mehr so das eigentliche Japan, in unseren Augen zumindest. Zeit ist für den Reisenden in Japan ein sehr wertvolles Gut, wie wir finden.


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So sind wir auch etwas melancholisch, als uns die netten Jungs von Japan Campers zum Terminal 2 des Narita Flughafens bringen. Wir nehmen die Keisei-Linie, die direkt bis zum Bahnhof Ueno fährt. Das unser Hotel in Ueno liegt, verdanken wir der Webseite des japanischen Tourismusverbandes, die mit der japanischen Botschaft in Deutschland verlinkt sind. Dort gibt es u.a. die Rubrik „Sie sind das erste Mal in Japan/Tokyo“, usw. Dort empfiehlt man, sich für den ersten Tokyoaufenthalt in Ueno einzuquartieren. Der dort liegende große Bahnhof bietet schnellsten Transfer in alle Stadtteile dieser riesigen Stadt, mit seinen 37 Millionen Einwohnern. Unser Hotel liegt nur 500 Meter vom Bahnhof entfernt, in einer seltsam ruhigen Seitenstraße. Da wir für das Einchecken natürlich zu früh sind, nutzen wir die Zeit für einen Rundgang in Ueno. Dieser Stadtteil liegt eher nördlich, direkt an einem riesigen Park, dem - wie kann es anders sein - Ueno-Park. Dieser ist äußert beliebt, wegen Schatten, viel Natur, dem Zoo mit seinen Pandas, den Schreinen und natürlich einem der größten Museen Japans, dem Nationalmuseum. Das Museum steht bei uns am Abflugtag auf dem Programm, dann können wir in der Nähe von Hotel und Bahnhof, gepäckfrei, in AC-Atmosphäre die nationale und internationale Objekte bestaunen. Auch der Park steht erst später auf dem


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Programm. Wir schlendern erst einmal durch die Gassen, die unmittelbar unter den Hochbahntrassen der East Japan Railway Company liegen. In engen Gassen liegt hier ein Viertel, was unmittelbar nach der Kapitulation Japans im 2. Weltkrieg entstanden ist. Hier liegt der Ameyoko, der ehemalige Schwarzmarkt Tokyos. Im Vergleich zu den ruhigen und geordneten Verhältnissen am Uenobahnhof - ich weiß, hört sich für unsereins schräg an - Bahnhof-geordnete Verhälnisse - tobt in den engen Seitengassen der Mob. Natürlich ist das inzwischen auch eine Touristenattraktion geworden, doch die ziemliche hohe Anzahl an Japanern, die herkommen, um eben Yakitori (Fleischspießchen), Takoyaki (Oktopusbällchen), Ramensuppen oder Sushi zu essen, zeigt eher ein „normales“ Viertel der Metropole. Während in Städten wie Bangkok, Jakarta, Kuala Lumpur, Vientiane oder Phnom Penh das Warenangebot meist Fälschungen sind, ist hier die Markenware echt und für Schänppchenjäger sind die Gassen ein Paradies. Marktstände mit frischem Fisch, Gemüse, mit handwerklichen Produkten wechseln sich mit kleinen Restaurants und Läden ab, die mit altem, neuem oder auf altgemachten gefälschten Militärwaren handeln. Damit fing es in Ameyoko eigentlich an, mit dem Handeln von US-Militärwaren. Hier und da künden tatsächlich noch einige Geschäfte von diesen Zeiten. Diese Shops sind dunkel, verstaubt, doch mit dem Einzug von Camolagemustern in die Modewelt, erleben auch diese Läden wieder eine Renaissance. Überhaupt, Second-Hand Mode läutet gerade in Japan das neue Fashion-Zeitalter ein. Überall in Ameyoko finden sich Vintage-Schuppen, die für uns ohnehin Tabu sind, denn für den vierschrötigen Westfalen gibt es keine einheimische Kleidergröße. Bei weitem nicht, das wäre so, als wollte man einen Elefanten in ein Pinguinfederkleid pressen.


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Wenn sich die Dämmerung über Ameyoko legt, beginnen die unzähligen japanischen Lampions und Laternen zu leuchten und tauchen die Gassen in einen bunten Schein. Hier gibt es alles, was die japanische Küche zu bieten hat. Die Restaurants sind klein, eng, laut und es herrscht einfach eine gelassene Stimmung. Hier entlädt sich häufig lauthals der harte, klar definierte Alltag der japanischen Arbeitnehmer, mit seinen gesellschaftlichen und kulturellen Zwängen. Was soll ich sagen? Fragen über Fragen des Orients! Konbanwa folks!

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