Wer fliest, hat kein Weltkulturerbe . . .
- Ingo
- 3. Juni
- 14 Min. Lesezeit
Depesche 15 - Der Goldene Felsen - 2016

„Life-Insurance not included“, lese ich da. Life-Insurance, wieso Life-Insurance? Hmmm, Anni schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, denn sie hat den Hinweis auf der Preistabelle auch gelesen. Äh, wofür genau würde man da jetzt eine Lebensversicherung brauchen, die dann netterweise wenigstens im Eintrittspreis inbegriffen ist? Fragen über Fragen des Orients ...
Wir sitzen, eingepfercht mit etwa 40 anderen burmesischen Pilgern, Mönchen und Bleichgesichtern auf der Ladefläche eines riesigen, ziemlich gut motorisierten KAMAZ. Der geneigte Leser fragt sich da jetzt sicherlich „Wat´ für Ding?“ - nun ja - der KAMAZ ist die ureigenste russische Materialisierung aller sowjetischer Tugenden, die sonst nur in ästhetisch fragwürdigen Revolutionsdenkmälern ihre Visualisierung finden: Stark, kraftvoll, groß, breit, unkaputtbar, hässlich und so rußumweltschädigend, wie ein Passagierdampfer der Costalinie. Alle anderen Trucks sind lustig buntbemalte heimische Fabrikate. Warum wir ausgerechnet in der sowjetischen Wuchtbrumme gelandet sind, weiß ich nicht; vielleicht machen wir einen so unbuddhistischen Eindruck, dass man die eher religiös angehauchten Transportmittel mit flatternden Gebetsfahnen, lustigen Lichterketten und Buddhaminiaturen für den echten Buddhisten vorbehalten wollte. Die Frage, warum man nicht einen Bus zum Gipfel nehmen kann, scheint mit der Strecke, der Steigung und der Beschaffenheit der Fahrbahn zusammenzuhängen, was mir sofort wieder das Wort Life-Insurance ins Gedächnis bringt ...

Das Starten des Motors erinnert mich sehr an meine aktive Zeit auf einem bundesdeutschen Kampfpanzer Leoprad 1A5, die ganze Machina vibriert, die Wolke aus dem Auspuff steht den Wolken vom Inle See in nichts nach, und als der Fahrer aufs Gaspedal latscht, werden 42 Wirbelsäulen und Schulterblätter gegen eine starre hölzerne Einheitsrückenlehne gepresst, außer bei mir, da sinds die Nieren ... bin halt größer, als der Durchschnitt hier... An dieser Stelle sei übrigens erwähnt, dass die Aussage, der Fahrer latscht auf das Gaspedal, nicht einfach mein fragwürdiges Sprachtalent manifestiert, sondern in diesem Kulturkreis einfach der Fachterminus für die bildliche Wortmarke, Der Fahrer betätigt mit Latschen an den Füßen das Gaspedal! Musste mal erwähnt werden, so meine ich, bevor mir hier neben fragwürdigem Humor noch fragwürdige sprachliche Kompetenzen angedichtet werden!
Aber ich greife vor. Wir sind auf dem Weg nach Kyaiktiyo, jawohl der geneigte Leser hat es richtig gelesen - Kyaiktiyo - was so viel heißt wie „Stupa auf dem Kopf des Einsiedlers“. Einleuchtend, oder? Ich liebe Asien, die sind hier so kreativ, wenn es um salbungsvolle Namen geht, irre oder? Nun ja, Kyaiktiyo wird „Tscheito“ ausgesprochen und bezeichnet den Ort, an dem Buddha mit zwei Haaren einen riesigen Felsen auf einer Gesteinskante befestigt hat. Was soll ich sagen, seine Repairspülung muss schon was können, denn die beiden Haare halten den überdimensionierten Gebetskiesel nun schon Hunderte von Jahren. Und das Ding wird nicht leichter, denn der Gesteinsbrocken hat sofort eine 5m hohe Stupa bekommen und wird darüber hinaus auch noch permanent vergoldet. Kyaiktiyo kennt bei uns natürlich niemand, nicht mal Reisebürofachangestellte - habs nachgeprüft - sondern bei uns heißt das in allen Reiseführern immer nur Der Goldene Felsen ...

Nach einem vergnüglichen Nachmittag bei Kaffee und Croissants, der Beobachtung des 7. Dante´schen Höllenkreises in Form von Sturzregen, mit einem abschließenden Besuch in unserem absoluten Lieblings-Shan-Noodle-House beschließen wir einen tollen Tag am Inle-See. In der gleichen Nacht geht es mit einem klimatisierten Überlandbus nach Bago und dann weiter nach Kipun. Der Überlandbus, ein neuer, glänzender Bleichgesichtersarg mit AC, landestypischer TV-Beschallung, wahlweise landestypischer Dauerhitparaden und schauriger Federung ist Myanmars Homage an komfortables Reisen. Bei Einbruch der Nacht sind wir auf einer highwayähnlichen Straße, die uns in tiefster finsterster Nacht an der neuen Hauptstadt Naypyidaw vorbeiführt bis nach Bago, wo wir in den frühen Morgenstunden das Fahrzeug wechseln müssen. Aber ich greife vor ...
Das Shan-Noodle-House heißt natürlich nicht so, sondern wurde von uns so getauft, weil der Name lediglich in feinster, aber leider für uns unverständlicher burmesischer Blümchenschrift über dem schräbbeligen Eingang geschrieben steht. Wir sind am Abend unserer Ankunft in Nyaungshwe planlos durch das touristentechnische Goldgräberstädtchen geschlendert und dabei zufällig auf dieses unscheinbare Restaurant gestoßen. In einem schlauchähnlichen Raum mit vergangenem Mobiliar aus fernöstlichem Resopal und herzerfrischender Neonbeleuchtung, sind wir über ein Gericht gestolpert, was in seinem Geschmack nirgends mehr in ganz Myanmar sein Äquivalent finden sollte. Es ist ein bisschen so, als hätte man einen guten Schneider gefunden, dessen Existenz gibt man schließlich auch nicht preis, auch nicht unter der Folter. Bei einer ganz normalen burmesischen Familie bekommen wir ein einfaches Shan-Nudel-Gericht, dessen Geschmack uns förmlich dazu nötigt, jede Mahlzeit bei ihnen einzunehmen. Die Shan sind ein Volk, das gut 500 Jahre v. Chr. aus dem heutigen China in die östliche Hochlandregion Burmas eingewandert sind. Einst erstreckte sich ihr Einflussgebiet bis in die chinesische Provinz Yunan. Es gab hier viel geschichtliches Hin und Her, was ich dem geneigten Leser ersparen möchte, denn schon wenn man die ersten Fürsten, Könige, Gegenfürsten und Gegenkönige aufzählt, verliert man heillos den Überblick

und die dabei meinerseits mühsam rekonstruierte Personenmatrix wäre für die Katz! Also begnüge ich mich damit, eine historischen Kurzform zu geben: Die Shan-Typen haben sich als kleines diebisches Bergvolk entpuppt, das überall ordentliches Fratzengeballer angezettelt hat, und um die Baseballschläger zu finanzieren, hat man ordentlich Opium angebaut. So, diese Situation hat sich in den vergangenen 2500 Jahren permanent wiederholt - mal haben die Chinamänner gewonnen, mal die Shan, dann wieder die Chinesen, dann die Shan, zwischendurch wurde die ein oder andere Prinzessin beiderseits verschleppt - vermutlich gleichzeitig (die verdutzten Gesichter hätten mir schon mal ziemlichen Spaß gemacht, und und und ...). Am Ende marschierte ein burmesischer General in die Berge, hatte den längsten Baseballschläger und haute in die verzwickte Lage rein, so kehrte dann gezwungenerweise Ruhe in den Bergen ein. Hier also die historischen Fakten in 100 Sekunden. Heute führt immer noch einer der berühmtesten Schmugglerpfade durch die Shanberge - die sogenannte Old Burma Road. Hier wird alles geschmuggelt, was irgendwie Kohle bringt, vornehmlich Jade! Die Chinamänner und die Thai sind ganz jeck auf das grüne Zeug, das mit der Zeit auch noch zu allem Überfluss seine tolle grüne Farbe verliert und ein unansehnliches Entenschiss-braun bekommt. Angeblich kommt die feinste Jade aus der Provinz Kochin und dem Gebiet der Shan, was ich nicht beurteilen kann, da ich davon keine Ahnung habe. Na ja, außer vielleicht, dass man beim Ankauf Jade mit einer Lampe durchleuchten muss. Dieses kleine, wenn auch unbedeutende Detail, führt in Asien immer dazu, dass man von einem burmesischen Schmuckhändler sofort anders behandelt wird. Am Ende der Reise haben wir in Rangoon einen Zug durch die Mitbringselmärkte gemacht und diverse Kleinteile erstanden. Unter anderem sind wir auch bei einem Schmuckhändler reingeschneit, der uns nette kleine grüne Glasperlen mit roter Wollbindung für teuer Geld andrehen wollte. Als ich mit der Taschenlampe das billige Tandgeschmeide durchleuchtete (bei echter Jade gibt es unregelmäßige Wolken- und Wachstumsadern) schreckte er hoch und beeilte sich, den Mist wegzuräumen und aus den Vitrinen echten Jadeschmuck hervorzuwühlen. Nicht, dass ich von dem Zeug etwas haben wollte, aber die kulturhistorische Stellung von Jade ist in diesem Teil der Erde so tief verwurzelt, dass ihr von magischen Heilungskräften bis hin zur sozio-politischen konfuzianischen Jade-Ethik immense Bedeutung beigemessen wurde und wird. Jedes erfolgreiche chinesische Unternehmen hätte gerne eine, wieder mal für unsere Augen ästhetisch fragwürdige, jadetechnische Monströsität im Eingangsbereich, vorzugsweise aus der burmesischen Bergregion ... Damit kann sich der geneigte Leser sicherlich vorstellen, welche Werte nach Einbruch der Nacht heimlich durch den finsteren Dschungel geschleift werden.

Aber zurück zu unserer Nudelsuppe. Auf drei rudimentären Holzkohleöfen kocht hier die Mutter der Familie Nudeln mit einer köstlichen Gewürzbrühe, die ihresgleichen sucht. Als die Herrin des Hauses meine Kameraausrüstung sieht, besteht sie darauf, dass ich sie in ihrer Küche filme, um uns dann zum Dank noch eine Portion für die nächtliche Busfahrt einzupacken. Da Nyaungshwe den Dollarboom wittert, hoffe ich, dass diese Familie nicht von den meist mafiösdurchsetzten Restaurant- und Hotelketten untergebuttert wird, und sie mit ihrem Produkt eine gesicherte Zukunft haben. Nyaungshwe ist das Zentrum für allerlei Bleichgesichterveranstaltungen: Reiten, Bootfahren und vor allen Dingen Trekking. Überall gibt es Veranstalter, die Mehrtagestouren im Hochland um den Inlesee anbieten. Während wir im restlichen Myanmar nur wenig westliche Reisende gesehen haben, ist hier die Dichte an jungen Trekkingtouristen überdurchschnittlich hoch. Tja, wer würde sie verurteilen, wir sind ja auch hier und natürlich keinen Deut besser. Wir korumpieren natürlich ebenfalls die Preise und die Kultur für den kleinen Mann, der nicht daran teilhaben kann - für uns ein schwieriges Thema, was uns auf dieser Reise mehr als einmal ein paradoxonales Dilemma beschert.
Bis zu unserer Abreise sitzen wir in einem Café, neben dem ein Buchladen ist. Jawohl, ein Buchladen, spezialisiert auf das cosmopolite Bleichgesicht, denn alle Druckerzeugnisse sind hier in Englisch, Französich oder Spanisch verfasst. Also kaufen wir ein und ich ergattere George Orwells Burmese Days, was er schrieb, als er als junger Soldat in Pyin U Lwin stationiert war. Während wir da so in der Abendsonne bei Buch und Latté rumlungern, kommt ein herrenloses Pferd auf die vor dem Café befindliche Kreuzung zu getrabt, hält an - schaut rechts und links, und überquert dann die Kreuzung und verschwindet in der Gasse gegenüber. Wir schauen uns an, ähnlich geht es dem Rest der Kaffeehausbelegschaft ... Tja, wie bereits erwähnt, Burma ist in Sachen Verkehr durchaus zivilisierter als der Rest von Asien, da hält man auch als Pferd an der Kreuzung!

Von unserer Bustour gibt es eigentlich nur zwei relevante Begebenheiten zu berichten, erstens die Stadt Naypyidaw und der Transportwechsel in Bago. Nun ja, wo fange ich an? Jeder, der unvorbereitet nach Myanmar stolpert, geht davon aus, dass die 8 Millionenstadt Rangoon oder Yangon die maßgebliche Hauptstadt ist. Ist sie gar nicht, das ist eine Stadt names Naypyidaw (sprich Napido). Im Jahr 2000 begann die Militärdiktatur eine neue Hauptstadt zu planen und zu bauen. Skurrilerweise ist diese Stadt komplett aus der Retorte und die ca. 1Million Menschen sind fast buchstäblich handverlesen. Den Militärs gefiel die zunehmende Liberalisierung der Einwohner von Rangoon nicht und so verlegte man die Amtsgeschäfte einfach in den Dschungel. Dort wurde einfach alles gebaut, was eine repräsentative Hauptstadt so braucht, einen Zoo, eine riesige Pagode, Regierungsgebäude, Luxushotels und natürlich breite Straßen. Da so gut wie kaum Touristen nach Naypyidaw kommen, und hier auch kaum alte Geschichte zu atmen ist, liegen hier ganze Heerscharen von Hunden begraben, außer vielleicht den Regierungsgeschäften ist hier nix los. Alle offiziellen „Reiseagenten“ des Landes sind zwar darauf geschult, alle möglichen Bleichgesichter davon zu überzeugen, Naypyidaw zu besuchen, schwärmen von Zoo und Pagode, aber kaum ein Reisender macht sich die Mühe, in diese moderne „Geisterstadt“ zu reisen. Unsere Hotelmanagerin gibt nach exakt 10 Sekunden ihr Vorhaben auf, uns über Naypyidaw nach Süden zu lenken, was vermutlich auch an unseren widerspenstigen Verhandlungen zu unserem Seetrip liegt. So verschlafen wir den großartigen Moment, als der Bus durch die 1 Million-Einwohner-Geisterstadt rauscht. Es gibt keinen Zwischenstopp, da keiner der Backpackers hier auszusteigen beabsichtigt. Skurril, oder? Na ja, wir sind ja auch nicht besser, schließlich haben wir ja auch ein verschlafenes Kaff am Rhein zur Haptstadt gemacht, weil unser erster Bundeskanzler aus seiner dörflichen Idylle Rhöndorf nicht so weit fahren wollte ...

Zum Sonnenaufgang werde ich kräftig an der Schulter geschüttelt. Verschlafen stellen wir fest, dass wir am „Umsteigeplatz“ nach Kipun angekommen sind. Der Begriff „Umsteigeplatz“ ist hier eigentlich nicht richtig, denn der Bus hält einfach auf dem Highway, wir steigen mitten im Verkehr auf der Straßenseite(!) aus, die Laderäume werden geöffnet und unser Gepäck wird in den Straßenstaub geworfen. Ein Kopfnicken, die Tür klappt zu, und der Bus fährt in den Sonnenaufgang Richtung Bago weiter. 4 Bleichgesichter stehen verschlafen im schwülen Morgendunst auf dem Highway, als ein kleiner Lastenwagen hält. Der Fahrer sagt kein Wort, verstaut uns und unser Gepäck in den Wagen und ab geht die Post. Wir werden zu einem kleinen Busbahnhof am Rande von Bago gekarrt, wieder umgesetzt, um die restliche knapp 100 km-Etappe nach Kipun zu überbrücken. Irgendwo im Stadtzentrum von Kipun hält der Bus, und schon stehen wir in der aufkommenden Mittagshitze herum und sind dem Motorradtaxigambit ausgesetzt. Schnell ist verhandelt und zwei Jungs bringen uns und unser Gepäck zu einem Hotel in der Nähe des Ausgangspunktes zum Goldenen Felsen von Kyaiktiyo. Kaum sind wir 5 Minuten gefahren, da geht den Jungs auf, dass sie uns viel zu billig transportieren. Sie stoppen nebeneinander und ihr Palaver mündet darin, dass wir kurz vor dem Bahnhof von Kipun auf dem Grünstreifen rumstehen, wieder einmal, und auf ein neues Taxi warten. Kaum 10 Minuten später sitzen wir auf der Ladefläche eines Lastendreirades mit dem Ziel Kyaiktiyo. Der junge Fahrer gibt alles, er will uns schnell und perfekt beim Hotel abliefern - leider verreckt der Motor wenige Kilometer später ... Was soll ich sagen, irgendwie scheint der Wurm in unserer Fahrt nach Kyaiktiyo zu sein. Mitten im Urwald stehen wir unter einem großen Luftwurzelbaum und schauen dem jungen Mann zu, wie er hektisch versucht, das zusammengebrochene Pferd wieder aufzurichten. Aber der Gaul schein ziemlich hin zu sein, sodass er beim nächsten Sammeltaxi aufspringt und es anhält. Wir geben ihm 50US$ Trinkgeld, was er zunächst entsetzt ablehnt - schließlich hat er ja keine Leistung dafür erbracht - und hoffen, dass er einen Teil seiner Reparatur damit bestreiten kann. Und nix wie rauf auf das nächste Gefährt. Leider ist die Personenkanzel so voll und auch noch niedrig, dass ich definitiv nicht reinpasse! Also hänge ich mich an das hintere Auftrittbrett, jawohl, das geht hier problemlos, also - in soweit nicht auch dieser Motor noch verreckt, wer weiß das schon. Und schon geht es weiter, immer noch in Richtung Kyaiktiyo. Aber diesesmal scheint es zu klappen. Wir gelangen in einem Rutsch, wenn auch „hängend“, nach Kyaiktiyo. Natürlich müssen wir wieder auf ein weiteres Gefährt umsteigen, was uns inzwischen wirklich erheitert und uns ein Dauergrinsen auf die Lippen zaubert. Dieses Mal besteigen wir eine Honda Spirit 25ccm, sehr komfortabel mit überdachtem Seitenwagen, und schon geht es ab zu unserem Hotel. Das Sunrise-Hotel ist ein kleiner Dschungeltraum und zusammen mit dem sehr empfehlenswerten Inle Inn definitiv die schönste Unterkunft, die wir in Burma bewohnen dürfen. Wir nehmen uns den restlichen Tag frei von allen weiteren reisetechnischen Tätigkeiten und chillen. Also hausmännere ich ein bischen herum, wasche Wäsche, packe alles aus und packe es neu, lade alle Kameras, lösche überschüssige, nicht-Pulitzer-Preis-verdächtige Aufnahmen, schreibe Tagebuch, dusche ausgiebig und flätze auf dem Kingsize-Bett herum. Den Abend verbringen wir in dem offenen Gastraum, der mit langen, dunklen Holztischen und -bänken sehr gemütlich-tropisch ist.

Nun sitzen wir zusammengepfercht auf den Ladeflächen und sinnieren über den Sinn der im Ticket inbegriffenen Lebensversicherung. Warum wir vermutlich eine Lebensversicherung benötigen wird klar, als der LKW beginnt, den „Besucher-Bahnhof“ von Kyaiktiyo zu verlassen. Ähnlich einer großen LKW-Abfertigung an einer x-beliebigen Grenze östlich von Wien gibt es hier bestimmt 8 Verladerampen, über die die Gläubigen, Pilger und Bleichgesichter verladen und gen buddhistisches Highlight gekarrt werden. Ich habe so viele Abbildungen des Goldenen Felsens gesehen, wie er hoch über dem Hang thront, dass ich schon ziemlich gespannt bin, wie er wohl in Natura aussehen wird. Noch bevor ich mir weitere Gedanken machen kann, werde ich mit aller Macht gegen das niedrige Marterholz in meinem Rücken gepresst und der Fahrer nimmt Anlauf, um die Steigung auf 1500m zu bewältigen. Über eine hellgraue Betonpiste, die sich durch den Dschungel schlängelt, ballert der russische Transportpöbel durch die tiefgrüne burmesische Walachei. Es geht hoch und runter, scharfe Rechtskurven, scharfe Linkskurven, wir sacken in eine luftlochähnliche Senke, wogegen mein Besuch beim 6fachen Rollercoaster Looping in L.A. 1992 nur abgestandener Kamillentee ist. Die sonst so milchkaffeebraunen Burmesen haben mehr so die Farben von kaltem japanischen Grüntee und die vormals ausgelassene Stimmung weicht brenzliger Unfall-Katastrophenszenarien. Kurz bevor wir die schweren, tiefhängenden Monsoonwolken erreichen, fängt es an zu regnen und 42 Ölsardinen, mit ebensolcher Armfreiheit, versuchen sich gelbe Säcke überzuwerfen. Es ist herrlich, also - ich hab Spaß ...
Auf dem Gipfel des Heiligtums wanken 42 fahle Pilger von der Verladerampe, halten inne, um ihre normale Gesichtsfarbe zurückzuerlangen. Steile Treppenstufen führen zunächst hinab in einen engen Mitbringsel- und Kuriositätenkorridor, dessen feinsäuberliche architektonische Choreografie jeweils einen Snackshop auf zwei Handcraftmarkets zulässt. Interessanterweise verkaufen alle Shops ausnahmslos thematisch identische Produkte. Pfiffig, finde ich, denn aufgrund moderner Marketingstrategie kapituliert der Consumer ja auch im Angesicht mantraähnlicher Werbewiederholungen und kauft ein Produkt, welches er in Grundzügen, nur anders farbig und geformt, schon seit Jahren in der Schublade so rumliegen hat. Was den Burmesen derzeit noch an digitalen Techniken fehlt, gleichen sie durch touristentechnische Hardwarehäufung einfach aus. Schließlich bleibt Werbewiederholung Werbewiederholung, ob digital oder analog! Wir schaffen die 100m ohne schwach zu werden, was eigentlich recht einfach ist, denn mein Gehirn ist noch völlig damit beschäftigt, die ausgefallenen Vitalfunktionen wieder herzustellen, besonders meinen Gleichgewichtssinn. Am Eingang des trichterartigen Treppen-Shopping-Korridors stehen etliche Träger mit ihren Bambussänften herum und warten auf gleichgewichtsgestörte bedürftige Pilger. Für Menschen, die nicht gut zu Fuß sind, der Besuch in diesem spirituellen Zentrum aber eine immense Glaubensbedeutung hat, sind die Sänften sicherlich ein Segen. Am heutigen Tage sind aber alle ziemlich gut zu Fuß und niemand bedarf der Dienste der Sänftenträger. Im Zuges eines raffinierten Planes zur Steigerung des Profits wird vermutlich der LKW-Fahrer von höherer Stelle angewiesen worden sein, fahrtechnische Nahtoderfahrungen zu produzieren, damit der, sonst kerngesunde Buddhist sich auf dem Weg zum Gipfel der spirituellen Erleuchtung gezwungen sieht, die hochherzigen Dienste des ureigensten aller asiatischen Gewerbe, der Sänftenträger, in Anspruch zu nehmen.

Von dem Felsen ist nichts zu sehen, denn die grauen Wolken hängen tief über dem Gipfel und tauchen alles in lauwarme Feuchtigkeit. Teile der Felsenplateaus sind gefliest, was den Gang zur Felsenpagode sehr rutschig und auch nicht ganz ungefährlich macht. Für alte Menschen macht der Sänftenservice wohl tatsächlich Sinn. Irgendwie ist es ein bisschen enttäuschend, denn all die postkartenähnlichen Abbildungen des Goldenen Felsens, die wir gesehen haben, sind im Anblick der grauen Suppe eher enttäuschend. Seltsam fahl und matt wirkt der heilige Brocken Granit. Halb umgeben von einem auf Hochglanz polierten Stahlgeländer, an dem Hunderte Glöckchen jeder Größenordnung leise im Wind vor sich hin bimmeln. Auf dem Plateau des Berges ist ebenfalls alles gefliest und hat so den spirituellen Charme einer Bahnhofstoilette. Dazu kommt ein monströser kongresshallenähnlicher Medidationsort, der aber aufgrund der Monsoonzeit geschlossen ist. Überhaupt sind nur wenige Menschen hier, was erstaunlich ist, denn fast überall ist es dicht gedrängt voll. An milden Sonnentagen steppt hier bestimmt der Panchen Lama in seiner roten Robe, denn dann gibt es hier bis zu 20000 Besucher am Tag (!). Zum Stein dürfen natürlich nur Männer, um hier zu beten und spirituelles Blattgold aufzutragen. Da ich kein Buddhist bin, bleibe ich auf einer kleinen Aussichtsterrasse stehen, trotz der vielen freundlichen Aufforderungen, mich doch der Männerschlange anzuschließen. Ihr Nasenbären, denke ich, ihr solltet eure Frauen mitnehmen und nicht daher gelaufene Bleichgesichter, trotz ihrer orangen Hindutücher aus Amritsar. Als die dichte Wolkendecke aufreißt, ändert sich schlagartig die gesamte Atmosphäre und die meisten Menschen hier verstummen. Außer dem Wind, dem stetigen Läuten der vielen Glöckchen sind nur Mantren von Pilgern zu hören, und das ganze Umfeld des Felsens ist in goldenes Licht getaucht. Der Himmel „färbt“ sich dunkelblau unter dem Kontrast der grellen Goldfarben-Refektion des Blattgoldes. Die Wolkendecke gibt den Blick ins Tal und lässt erahnen, wie weit man von hier aus bei klarem Wetter schauen kann. Trotz der ästhetischen Geschmacklosigkeiten und fragwürdigen spirituellen Devotionalien im Umfeld, bin ich unwillkürlich von dem goldenen Licht, dem Duft der Sandelholzräucherstäbchen, dem Klang des Windes, der sich in seiner Böigkeit in den zufälligen Tönen der Messingglöckchen fortsetzt, gefangen. Schlagartig treten alle Nebensächlichkeiten in den Hintergrund und setzen eine ruhige und friedfertige Stimmung frei, die vormals bei all dem Shoppingschnickschnack, lauten Palaver und der nervigen distanzlosen „Same, same, but different“-Slogans so gar nicht aufkommen wollte. Fasziniert von der Momentaufnahme der Situation stehen wir auf der Seitenterrasse und lassen das massive Licht des Goldenen Felsens und die Weite des Horizonts auf uns wirken. Nach einer halben Stunde ist der goldene Zauber wieder vorbei und tiefgraue Regenwolken schieben sich über die Berghänge


Aber, lieber Leser, bei aller Spiritualität muss auch der härteste Asket mal hier und da ein Reiskorn konsumieren. So suchen wir uns ein Restaurant, derer sich etliche buchstäblich im Schatten der monströsen Meditationshalle anschließen. Wir landen in einem, der frühen Mittagszeit geschuldeten noch leeren Fresstempel, der auf riesige Reise- und Pilgergruppen spezialsiert ist, mit Blick in die Tiefe der Berghänge. Unter romantischer Neonflutlichtbestrahlung verschnaufen wir, allein, in einem turnhallengroßen Raum, dessen gesamte Tiefe mit langen nüchternen Tischreihen zugestellt ist. Über die roten Papiertischdecken, die gekonnt mit rautenförmigen weißen Papierdecken dekoriert sind, hat man sicherlich aus hygienischen Gründen transparente Baufolie gespannt und festgetackert. Die Speisekarte bietet überwiegend chinesisch geprägtes Essen, was im Hinblick auf die Köstlichkeiten der Shanküche eher enttäuschend ist. Gut, also Nudeln mit Huhn für mich und eine Gemüsesuppe für Anni. Zum Essen reicht man hier keine hauseigene Sojasoße, was ich sehr bedauere, sondern ganz ungeniert eine Maggiflasche. Das nervt mich, ich will Abenteuer in dieser abgeschiedenen Bergwelt und kein heimisches Produkt. Abenteuerlich wird es trotzdem, nachdem Anni in ihrer Gemüsesuppe eine lebende Fleischeinlage entdeckt. Nun ja, scheint alles voll Bio zu sein, denn im Gemüse lebte wohl eine Made, die den Kochvorgang auf wundersame Weise überlebt hat. Aber, wen wunderts? Schließlich sind wir an einem heiligen Ort, und da sind ein paar Wunder wohl drin, oder? Natürlich wollen wir keine buddhistische Aufmerksamkeit erzeugen und behalten das Wunder für uns, teilen es zunächst nur mit dem Servicepersonal, die unsere Bedenken eigentlich nicht so richtig teilen können, sich aber von meiner hochgezogenen Augenbraue dann doch bemüßigt fühlen, den kleinen Racker aus der labbrigen Terrine zu befreien. Anni bekommt original den gleichen Napf zurück mit der Versicherung, dass die Brühe jetzt total veggie sei. Kann ihre langen Zähne verstehen, andererseits habe ich in China etliches gegessen, was schlimmer war als eine Made und der geneigte Leser sieht, ich lebe noch. Natürlich ist es nicht schön, aber, machen wir uns mal nichts vor, in Mexiko hätten sich jetzt alle um den armen Wurm geprügelt, zumindestens wenn er noch von einem Hauch Tequila umhüllt gewesen wäre. Fragen über Fragen des Orients.

Die Hänge unterhalb der Restaurants sind mit ärmlichen Häusern gespickt, in denen sicherlich die Belegschaft der Geschäftswelt der „Goldenen-Felsen-AG“ residiert. Hier gibt es eine Schule, dessen Pausengeräusche zum Fresstempel hinaufschallen, enge Gassen, kleine Schreine, mehrere Klöster und etliche Goldene-Felsen-Pagoden-Imitate. Mit der Sonne scheint es für heute vorbei zu sein, denn die Wolken werden immer dichter und bald schieben sich tropfnasse Nebelfetzen über das heilige Plateau. Auf dem Rückweg begegnen uns etliche Sänften, doch anstelle lahmer oder betagter Burmesen, werden dort fette, jugendliche chinesische Neureiche herrenmäßig transportiert. Mit der Arroganz von Geld lassen sich die gelangweilten Fettklopse jeden Geschlechts von den ausgemergelten Trägern zum Felsen hieven. Wie fast alles in Asien, ist auch der Besuch am Goldenen Felsen sehr zweischneidig - einerseits herrscht der totale, grellbunte Nepp und andererseits ist die kulturelle Tiefe des Ortes sehr einnehmend. Zum ersten Mal sind wir uns nicht schlüssig, ob wir diesen Ort in Myanmar noch einmal besuchen würden?