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Der Tokeh wohnt auch hier . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • 10. Juni
  • 9 Min. Lesezeit

Depesche 21 - Golf von Bengalen - 2016


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In den frühen Morgenstunden weckt mich der Klang der Wellen, die sich geräuschvoll auf dem schmalen Sandstreifen vor unserer Hütte brechen. Der schleierartige Regen, die böigen Winde und die schwüle Hitze des Vortages sind einer gemäßigteren Darbietung der Natur gewichen. Noch mit geschlossenen Augen kann ich das sanfte Rascheln der mächtigen Palmblätter hören, die in der leichten Meeresbrise zaghaft aneinander reiben. Das entfernte Gackern wütender Seevögel, die sich um die Beute streiten und dabei vermutlich waghalsige Flugkunststücke vollbringen, dringt schwach durch die dünnen Bambuswände. Der betörende Geruch von Salzwasser und Seetang verheißt eine unerklärliche Sehnsucht nach der unendlichen Weite des Meeres. Der schmale Saum der hohen Küstenpalmen sorgt in der Dämmerung für fahles Licht in unserer Strandbehausung, liegt doch das Meer nach Westen hin ausgerichtet. Nur undeutlich lässt sich das Innere durch die dichten Maschen des Moskitonetzes ausmachen. Die Ecken bestehen aus vier mächtigen Holzstämmen, die fest in den Boden gerammt, gleichzeitig als Konstruktionselement für einen erhöhten Boden fungieren. Grobe, rot gestrichene  Planken bedecken die Querbalken. Geflechte aus Bambusstreifen, zu festen Elementen verflochten, dienen als Wände. Das Bett, cremeweiß bezogen, steht mittig und wird komplett von einem großen Insektennetz bedeckt. Eine funzelige Glühbirne, die von einer faserigen Korbblende umgeben, wird spendet flackerndes Licht, was es ohnehin nur abends gibt. Möbliert ist unsere Bleibe mit einer Gepäckablage, einem Tisch und einem Stuhl. Alles aus Holz gefertigt, einfach, schmucklos und zweckmäßig. Das improvisierte Bad mit Dusche, einem Blechwaschbecken und einem westlichen WC schließt sich rückwärtig an die Hütte an. Die Holzplanken des Spitzdaches sind aus dekorativen


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Zwecken mit vertrockneten Palmblättern gedeckt, vermutlich, um den rudimentären Robinsoncharme zu unterstreichen. Auf einer kleinen Veranda, die dem Meer zugewandt ist, stehen zwei grobe Holzstühle und ein niedriger Tisch. Wie beschreibt man das Paradies? Für mich persönlich ist das leicht - losgelöst, reduziert und weit. Die geöffnete Tür lässt eine Welt herein, die so weit von unserer ist, dass es mir buchstäblich die Sprache verschlägt.

    Die kleine Treppe unserer Hütte führt in einen schmalen Palmenhain, der vom frühen Morgenlicht durchflutet, den Blick auf den Strand und die aufgewühlte Brandung des Golfs von Bengalen freigibt. Wenn auch der sich ändernde Wasserstand von Ebbe und Flut hier nicht besonders groß ist, hat das Wasser heute morgen einen weiten Teil des Strandes freigelegt. Von der Dynamik der Wellen glatt gezogen, spiegelt sich der weite Himmel auf der, über dem Sand verbliebenen dünnen Wasserschicht. Dieses Spiegelbild des frühen Morgens verursacht den Eindruck völliger Loslösung hin zur Unendlichkeit. Die Wolken reißen auf und während über dem westlichen Horizont noch tiefschwarze Monsoonwolken hängen, breitet sich über den Palmen blauer Morgenhimmel aus.


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Gebannt stehen wir am Strand, fasziniert von diesem Schauspiel, scheinbar völlig allein an diesem paradiesischen Morgen. Wir sind ohnehin allein in dieser Hotelanlage, denn es ist Regenzeit und so liegt der sogenannte Silver Beach in Ngwesaung gästetechnisch brach. Auf gut 20 Kilometern reiht sich Hotelanlage, an Hotelanlage, wie hölzerne Perlen auf der Schnur einer buddhistischen Gebetskette. Die namhaften Hoteliers haben geschlossen und so schnöde Individualisten sind ohnehin nicht ihre Zielgruppe. Unsere Anlage besteht aus 15 kleinen Gästehütten, einem verwaisten Restaurant und einer sparsam möbelierten Aussichtsterasse. Der Strand ist nicht aufgehübscht oder aufgeräumt, er ist einfach so, wie eine Küste einfach ist. Erstaunlicherweise ist der „Dreck“ rein biologisch, angeschwemmte Kokosnüsse, verrottete Algen und Palmblätter, Muscheln und hier und da ein toter Meeresbewohner, der es bei Ebbe nicht rechtzeitig in seinen gewohnten Habitat zurückgeschafft hat.   


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  Es ist sehr warm, doch der salzig-feuchte Wind, der über den Golf von Bengalen weht, erfrischt und entspannt. Ich liebe diese Momente, wenn mein Blick in die Weite schweifen kann und die Elemente für alle meine Sinne wahrnehmbar sind. Der Küstenstreifen Burmas besteht hier aus angedeuteten Landzungen und weiten, halbkreisförmigen Buchten mit schmalen Sandstreifen. Palmenbewuchs erstreckt sich bis dicht an die Brandungskante und begrenzt den Blick in die Tiefe des Landes. Nördlich von unserem Standpunkt steht ein Fels in der Brandung, von den Wellen glattgewaschen, vom täglichen Schmirgeln des Meeres nach unten hin verjüngt, beherbergt er über dem streifigen Sediment des Gesteins zwei kleine goldene Stupas. Die Einheimischen nennen den Felsen den Two-Pagoda-Rock, den Zwei-Pagoden-Fels. Angeblich ist der Felsen in der Dämmerung ein beliebter Platz für verliebte Pärchen. Da wir weit und breit die letzten Mohikaner sind, lässt sich diese These nicht näher verifizieren. Wir scheinen nicht nur die einzigen Gäste, sondern auch das einzige Liebespaar weit und breit zu sein. Vielleicht sollten wir zur Dämmerstunde zum Zwei-Pagoden-Felsen gehen, damit die Story stimmt? Fragen über Fragen des Orients.


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   Wir chillen - oder dezenter formuliert - wir hängen vor der Hütte ab. Es gibt kein Internet, so gar nicht, ist einfach nicht vorgesehen. Außerdem gibt es keinen Strom, zumindest nicht tagsüber. Nachts gibt es kein fließend Wasser, aber Strom für die Beleuchtung und tagsüber gibts fließend Wasser, aber keinen Strom. Geht alles. Wer braucht schon Internetzugang, wenn man an einem einsamen Palmenstrand hockt und der Kopf nach weniger visuellem Input schreit. Wir verbringen den gesamten Tag damit auf der Veranda zu sitzen und auf die Weite des Meeres zu schauen. Nach ein paar Stunden komme ich mir vor wie Billy Bones, der den ganzen lieben Tag lang den Horizont nach einem Schiff absuchte, aus Furcht vor seiner Nemesis Long John Silver. Immer wieder gibt es lauwarmen Monsoonregen und die aufkommenden Winde verwandeln die zahmen Wasser des Meeres in ein wildes Durcheinander rollender Wellen und schaumiger Gischt, die an das wuselige Gewirr von Poseidons Bart erinnert. Jede Stunde kommt der Koch vorbei und bringt uns unaufgefordert eine Thermoskanne mit heißem Tee, begleitet mit der obligatorischen Frage, ob wir etwas bräuchten. Nein, nichts! Gar nichts? Nein, gar nichts! Wir versprechen, zum Abendessen bei ihm vorbei zu schauen und seinen kulinarischen Verheißungen zu testen. Er will seine küchentechnischen Künste und Geheimnisse unbedingt an die Frau und den Mann bringen. Wir geben uns geschlagen und sagen für Mittag- und  Abendessen zu. Wir haben keine Wahl und seine Hochstimmung lässt sich daran ablesen, dass sich die Intervalle für den Teewasserbringeservice drastisch verkürzen.


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   Die „Leere“ des Meereshorizonts ist geradezu Balsam für die geschundenen Gehirnzellen, die bis zu diesem Zeitpunkt ununterbrochen im synaptischen Dauereinsatz waren. Das Gehirn ist ein wunderbares Organ, es strukturiert, katalogisiert und memoriert permanent alle wahrgenommenen Informationen und erlaubt ein spontanes Öffnen einer x-beliebigen Informationsschublade. Nach diesen Wochen landauf und landab in Myamar habe ich allerdings den Eindruck, dass permanent irgendeine Erinnerungsschublade aufgerissen wird, schier unendlich grellbunte Erinnerungsvisualisierungen unkontrolliert hervorquellen und in meine scheinbar reiz- und datengeschwollenen Nervenbahnen drängen. Äußerlich ganz gesetzt, in buddhistischer Tiefenruhe den Horizont fixierend, tobt durch meinen Kopf ein Erlebnis nach dem anderen, will gefangen, festgehalten, einsortiert und memoriert werden. Allein der Auftakt, als wir unser gebuchtes Zimmer nicht beziehen konnten, weil es anderen Reisenden so gut gefiel und man sie nicht einfach umquartieren wollte, lässt mich schon wieder unkontrolliert schmunzeln. Während ich wieder den Horizont fixiere, sehe ich da die Reisfelder entlang der Bahnlinie von Mandalay nach Tazi. In meinem Geiste sitze ich wieder auf dem Trittbrett des Waggons, während der Zug nach Südosten


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rumpelt und das gleißende Gegenlicht der östlichen Morgensonne die fremdartige Landschaft, Reisfelder, Palmenhaine, Pagodenspitzen, Bergrücken und die Menschen als schwarze, filigrane Scherenschnitte präsentiert. Der feuchte, silbrig schimmernde Monsoondunst, der schwer und feucht über den Reisfeldern hängt, bildet einen transparenten Schleier, aus dem schemenhaft dürre Menschen mit ihren konischen Reishüten auftauchen und mystisch in den nächsten Sekunden wieder verschwunden sind. Gemäß dem Tempo und Takt des Zuges, wandert das Sonnenlicht reflektierend über die ruhigen Wasseroberflächen und Reispflanzen, sticht in den Augen und verschwindet in seiner Intensität nur, wenn wir lauthals durch einen Palmenhain rattern. Mein Körper und Geist übernehmen den Rhythmus des Zuges, sein Schwanken, und die sich mantrisch wiederholenden Klackgeräusche, wenn die Räder von einem Schienenstrang auf den nächsten fahren, lösen meine Gedanken und befreien mich aus vielen mentalen Gefängnissen, zu denen mein Alltagsgehirn fähig ist. Wenn der geneigte Leser sich diesen Zustand nicht vorstellen kann, schlage ich einen Selbstversuch vor: Bequem auf das Sofa hocken und die Augen schließen. Alternativ, kann man auch einen Punkt am Horizont fixieren. Die nächsten 10 Minuten nur auf die Geräusche achten, die man im Umfeld wahrnehmen kann. Wenn sich dann die Atmung beruhigt hat und auch die Muskeln sich lockern, sollte das Gehirn ein wiederkehrendes Geräusch produzieren, vielleicht das überfahren von Dehnfugen auf alten Autobahnen, dazu sollte sich Hintergrundmusik gesellen, besser kein Rammstein oder kein Gabba, so was mit Flow.


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Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch genau so ein Lied im Kopf hat, das eine, was jede Menge gespeicherter Emotionen freisetzt. Dazu fängt man an, sich leicht im Takt hin und her zu wiegen. Die Mischung all dieser Dinge könnte zu einem Zustand führen, den ich bekomme, wenn ich mit dem Zug durch silbrig schimmernde Reisterrassen fahre. Bevor der geneigte Leser aber jetzt glaubt, ich wäre auf einem Urschreiseminar oder hätte eine fulminante Yogaerleuchtung, den muss ich enttäuschen. Alles ganz normal bei mir. Wann immer ich mit einem Vehikel, ganz gleich welches, in rhythmischer Bewegung bin, bekomme ich diesen Zustand von Gelöstheit und innerer Zufriedenheit - nun gut - oder ich schlafe sofort ein. Flüchtige Momente wie diese, erwärmen mein Herz und beruhigen das tückische Fernweh, welches nur allzu gern in meinem Alltag schleicht und mit einem leisen Pochen beginnt. Interessanterweise kann ich Erinnerungen meines „mobilen Unterwegssein“ fast immer abrufen, egal ob es zwanzig Jahre her ist oder nur zwei. In Guatemala habe ich mich beispielsweise ausschließlich per Anhalter auf Tomatenlastern durchs Land bewegt und bis heute sehe ich die Bilder der Dschungeldurchfahrt im Petén, durch die Vulkangegend von Chichicastenango oder Antigua deutlich vor Augen. Aber zurück zu den Reisfeldern von Mandalay, über Guatemala schreibe ich ein anderes Mal.


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    Es gibt für mich kein typischeres Bild von Asien, als dürre Menschen, bunt gekleidet, mit Reishüten vor der erbarmungslosen Sonne geschützt, die bis zu den Knien in Morast stehen und in gebeugter Haltung Reispflanzen setzend. Das dieses Bild touristisch verklärt ist, muss ich natürlich nicht erklären. Außerdem ist mir natürlich auch die ökonomische Ungerechtigkeit zwischen Ost und West bewusst, sei hier einmal angemerkt. Natürlich sehen wir auch die politische Probleme hier, lokale und globale und ebenfalls auch die unterschiedlichen monetären Interessen, die zu sozialem Ungleichgewicht führen. Aber das ist nicht das Thema meiner Depeschen, dennoch sei es erwähnt, bevor der geneigte Leser bezweifelt, dass ich dennoch ein zoon politicon bin, wie Aristoteles philosophisch „sein politisches Wesen“ nennt.      


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  Ich lasse die ganzen Tage und Erlebnisse vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen, unterbreche hier und da meinen Gedankenfluss, muss lächeln, ja beinhae schon grinsen und das Erinnerungsband läuft weiter. Irgendein schlauer Professor der Uni Clausthal hat mal gesagt, „Wir erleben mehr, als wir verarbeiten können!“ Diese Formulierung drängt sich mir besonders in solchen Momenten auf, wenn so eine unstrukturierte Fülle Erinnerungen auftreten. Diese drei Tage in Ngwesaung sind einfach toll, denn wir können all die Erfahrungen sackenlassen und verarbeiten. Wir sitzen scheinbar sinnfrei in den unbequemen Holzstühlen, schütten uns mit gutem chinesischem Tee zu, lesen, schreiben Tagebuch oder starren aufs Meer. Wenn der Gesäßmuskel dem Großhirn „Verspannung“ meldet, raffen wir uns auf und laufen den einsamen palmengesäumten Strand entlang bis zum Zwei-Pagoden-Felsen, aber nie weiter.

   Nach zwei Tagen entdecke ich dann auch schon unseren Untermieter auf einer etwas abgelegenen Stelle des Bambusgeflechts. Der geneigte Leser muss sich die Situation folgendermaßen vorstellen. Wir kramen gerade beide irgendwie in unseren Gepäckstücken, als mir im Halbschatten ein possierliches Reptil auffällt. Leise raune ich meiner Reisegefährtin zu, sie möge mir unauffällig und ruhig die Kamera reichen. Das ist dann meistens der Moment, wo die Mitreisende jetzt einen 6 Meter langen Phyton, einen 4 Meter langen Komodovaran oder mindestens einen hochgiftigen texanischen Rattler im diffusen Licht der Behausung erwartet. Aber weit gefehlt. Gut 30 cm lang, wild in Braun und Rottönern gesprenkelt, völlig regungslos, je bis hin zur totalen Erstarrtheit hockt da ein Riesengekko auf dem Geflecht der Wand. Wunderschön! Der Gekko hingegen bewegt sich keinen Millimeter von der Stelle, auch nicht, als die runde, verspiegelte Glaslinse der Fa. Zeiss sich langsam auf ihn zu bewegt. Leider ist es so diffus, dass


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ich nicht um den Gebrauch des Blitzes drumherum komme. Fast tut mir das Kerlchen schon leid, denn kurz zuvor hatte man noch seine Ruhe, chillte an der Wand rum, schnappte genüsslich nach den im Überfluss vorhandenen Mücken und Spinnen und war so einfach ganz bei sich. Dann plötzlich das Aufflammen von so einem Feuerwerkskörper und die ganze Ruhe ist dahin ... Wir nennen ihn Günther, warum lässt sich nicht sagen, spontaner Einfall sozusagen! Günther ist jedoch ein ganz angenehmer Zeitgenosse, er zuckt nicht mal als der Blitz aufflammt und auch seine Pupillen verändern sich keinen Deut. Faszinierend, denn ich kann nicht mal annähernd in die Kamera schauen, wenn es blitzt. Lange Rede kurzer Sinn, Günther wird als voll akzeptierter WG-Genosse in die Gemeinschaft


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unserer chilligen Robinsonbehausung aufgenommen. So lange er die Mücken wegputzt,  ist er meinerseits mehr als willkommen. Auf so ziemlich jeder Tropenreise habe ich alle möglichen Gekkos gesehen, auch in allen möglichen Färbungen, aber nie größer als maximal 10 cm Länge. Günther ist ein richtiges Prachtexemplar, aber bei der Recherche wird mir dann doch mulmig, denn generell gilt für adulte Tokehs, dass sie alles fressen, was sie überwältigen können. Hm, so, so!?! In Folge wird unser Mückennetz nachts mit größerer Sorgfalt verschlossen und unter die Matratze gestopft, für den Fall, dass Günther erhöhten Appetit hat. Aber wir überleben Günthers Anwesenheit und seinen Jagdtrieb unbeschadet und am Tage unserer Abreise ist er verschwunden. Undankbarer Genosse, jawohl, erst in die WG einzecken und dann sich heimlich aus dem Staube machen. Wunder über Wunder des Orients!


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