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Und am Ende werden Drachen sein . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • 10. Juni
  • 14 Min. Lesezeit

Indische Depeschen - Vorwort


Thar Desert  |  Indien  |  2018
Thar Desert | Indien | 2018

Wie oft habe ich in einem Café gesessen und darüber nachgedacht, dass ich unbedingt ein Reisebuch verfassen muss. Wieso? Es gibt genügend davon! Etwa meines humoristischen Stils wegen? Oder vielmehr meines Schreibtalents wegen? Vermutlich gibt es hunderte von Menschen, die ebenfalls weit herumgekommen, ebenfalls gerade in einem Café sitzen und genau diesen Gedanken hegen.

   Bedauerlicherweise nenne ich weder einen humoristischen noch irgendeinen anderen Schreibstil mein eigen. Was zu der traurigen Tatsache führt, dass es vermutlich nie ein ernst zunehmendes Reisebuch von mir geben wird. Es ist zum Verzweifeln!

   Übrigens sitzt mir ein Mann gegenüber, der genauso verzeweifelt auf die Wand des Cafe´s starrt wie ich selbst. Er ist bewaffnet mit Zettel, Stift und der unvermeitlichen Tasse Milchkaffee und - wie kann es anders sein - er versucht Gedanken zu Papier zu bringen. Auch wenn wir uns gegenübersitzen, so starren wir doch aneinander vorbei. Jede zweite Zeile streicht er durch und beginnt neu. Jeder Neuanfang wird unterstützt von einer verzweifelten Geste des Stirnreibens. Für mich ist klar, er schreibt ein Reisebuch! Zweifelsohne ein ernstzunehmendes. Leider! Wer sonst würde sich auf altmodische Art mit Papier und Stift in ein urbanes Szenecafé wagen, wenn nicht ein erfolgreicher Reisebuchautor oder ein ernstzunehmender. Besonders nervös macht mich, dass er einen so trendigen Silberkulli benutzt, der verschieden Farbminen hat, die mittels kleiner Schubknöpfe ausgefahren werden können. Ganze Passagen werden mit der roten Kullimine verfasst, mit der blauen Mine streicht er durch und die Farbe schwarz scheint für die eher langweiligen Passagen seiner Reisen zu sein. Inzwischen kann ich feststellen, dass es tatsächlich ein Artefakt der frühen 80er Jahre Büroausrüstung ist. Gibt es tatsächlich immer noch Minen für diese Dinger? Mein Vater hatte ein identisches Schreibwerkzeug, welches je nach vergessener Mine seinen Hemdtaschen eine rote, blaue, grüne oder blaue Dekoration in organischer Musterung bescherte.

   Kurzfristig vermute ich, dass er mir meinen - kurz vor dem Durchbruch stehenden - Reisebuchruhm streitig machen möche. Beruhigt stelle ich fest, dass er mit seinem trendigen 70er Jahre Kuli zwischen den Fingern jongliert und eigendlich kaum etwas zu Papier bringt. Künstlerpech oder gähnende Leere. Ich kann ihn verstehen - wo beginnt man mit seinem Reisebericht. Unsicher schaut er mich an, ich lächle zurück und begleite meine Geste mit einem unsicheren Lächeln. Dankbar, ja förmlich erleichtert nimmt er dieses, vielleicht als Verzweiflung aussehende Lächeln als Kommunikationsangebot und bricht das Schweigen. Er schreibe einen Brief an seinen Vater und was ich denn so versonnen in meinem Notizbuch vermerke?

   Erleichtert, dass er mir meinen Reisebuchautorenruhm mit einem ernst zu nehmenden Werk, bspw über die Bergstämme im Norden Vietnams nicht streitig macht, frage ich ihn nach der Art seiner väterlichen Familienbande. Irritiert und sprachlos schaut er mich an - einen ebenso kommunikativen Frontalangriff hatte er nicht erwartet, atmet tief durch, schluckt. Ich deute auf seine Zeilen, von denen derartig viele durchgestrichen sind, dass ich eine große Herzens- und Seelenlast, wenn nicht sogar Qual vermute.

   Seit zwanzig Jahren habe er nicht mehr mit seinem Vater gesprochen und das niemals bedauert - aber neuerdings hätte sein Sohn den Kontakt zu ihm abgebrochen - und der Schmerz sei unerträglich. Dann sprudelt es aus ihm heraus - längst schon ist meine Person unwichtig für ihn geworden, der gesamte Schmerz, unerfüllte Wünsche und eine tiefgehende Sehnsucht nach der Essenz des Lebens brechen hervor. Mein Reisebericht muss warten, ja in der Intensität des Moments scheint er auf Eis gelegt; alle Dämme brechen, er lacht, weint - das typisch himmelhoch Jauchzende wird von tiefer Niedergeschlagenheit abgelöst. Mein Terminplan ist längst den Bach runtergegangen, mein Handy vibriert ununterbrochen - aber was solls. Ist es nicht faszinierend, was einem Menschen im Laufe seines Lebens so passiert? Gerade saß man friedlich da, trank einen Kaffee und sah sich auf der Straße zum literarischen Ruhm und im nächsten Moment schlägt das Leben voll zu. Zwischen Kaffee und Tränen werde ich nach Gott gefragt, nach Glück, dem Sinn des Lebens und ob ich jemals wahrhaftig geliebt hätte. Da ich auf die meisten Fragen ohnehin keine zufriedenstellenden Antworten parat habe und auch den Computer zu zücken und „Sinn des Lebens“ zu googlen keine Option in dieser Situation ist, beschränke ich mich aufs Zuhören. Schlüssige Antworten nach Gott fallen mir ebenso schwer, wie den Sinn des Lebens zu erhellen. Für den Job des Papstes hätte ich vermutlich wenig Aussichten, nicht nur bedingt durch mein protestantisches Gebetbuch, auch der Status meiner Freundin könnte als Hindernis gesehen werden. Obwohl? Wer weiß, wir leben schließlich in den 2000ern. Diffizil ist bestimmt die Sache mit dem Sinn, tja-falls ich da Brauchbares produzieren könnte, würde ich vermutlich an der Universität Königsberg Philosophie lehren oder aber mindestens irgend eine digitale oder analoge Kolumne mit Lebensweisheiten bedienen. Aber all das ist für mein Gegenüber unwichtig - verpasste Gelegenheiten und Chancen sind kennzeichnend für seine Geschichte. Wechselspiel von „man muss“, „das kann man nicht machen“ und „wie stellst du dir das vor“. Ein Leben voller Zäune, konditionierter und selbst gewählter Grenzen. Er ist Anfang 50 und auf dem Grund seines Daseins angekommen. Die Angst nicht wahrhaft zu leben schnürt ihm die Kehle zu, lähmt und bereitet ihm unaussprechliche Seelenqual. Dabei habe er alles ausprobiert, momentan sei er mit einem Bulli unterwegst - dem Zentrum seiner Freiheit - leider fahre er auf einer nebeligen Straße, die sich scheinbar immer weiter von seinem wahren Ich entferne.

   Abrupt hört er auf zu sprechen - nach zwei intensiven Stunden versiegt sein Kommunikationsbedürfnis. Stille, er lächelt unsicher, fast entschuldigend. Ob ich ihn für verrückt halte? Aber was ist schon verrückt, was ist normal - auch darauf weiß ich keine Antwort - ich bleibe sie ihm auch schuldig. Aber dennoch will er eine, egal welche. Vielleicht nur um seine innere Zerissenheit bestätigt zu sehen.

    Er bedankt sich für das Zuhören und verschwindet mit seinem Bulli in der frühen verregneten Dämmerung dieses ungemütlichen Allerweltstages.

   Es ist wirklich faszinierend, was einem so alles passiert. Da sitzt man gerade noch nichtsahnend vor einer Kaffeetasse und auf einmal fragt einer nach dem Sinn des Lebens. Ich sitze noch lange vor selbiger, inzwischen geleerter, Tasse und lasse das Gespräch Reveue passieren. Irgendwie kommt mir diese Verlorenheit bekannt vor: „Er ist noch nicht genügend gelaufen!“ kommt  mir in den Sinn.

   Dieser Satz, eher unauffällig und nur wenig reißerisch, begegnete mir häufig auf dem Camino Real, dem Jakobsweg. Ich hatte gerade Quartier in der Kirche von Granon bezogen und machte einen Rundgang durch die „Stadt“. Ehrlicherweise sei hier erwähnt, das „Rundgang“ ein doch sehr hochgestochenes Wort für meinen Laufstil ist, Rundhumpeln trifft es besser. Meine Füße hatten die Dimensionen, die einen ausgewachsenen Elefantenbullen neidisch gemacht hätten. Wenn ich an dieser Stelle erwähne, dass meine ExGattin die ganzen Bergetappen Galiziens in Flip Flops gelaufen ist, möchte mancher den Kopf schütteln. Das kann ich gut verstehen, schließlich bin ich permanent hinter diesen Flip Flops hergeastet und mich gefragt, wie sie das macht?

   Granon ist ein Nest - anders kann man die Dimension dieses Ortes nicht beschreiben. Das sich dort überhaupt Menschen einfinden ist ein Wunder, denn schließlich hat Gott diesen Ort in einer Sekunde der Vergesslichkeit dort entstehen lassen. Wäre da nicht der bemuschelte Pilgerpfad, würde sich sicherlich niemand dorthin verirren. Die vereinte Pilgermeute erhält deshalb eine dörfliche Minimalgeschäftswelt und -gastronomie am Leben - wobei die Frage nach dem Huhn oder dem Ei nicht gestellt werden sollte. So saßen wir des frühen Abends in bunt gewürfelter Pilgermischung um einen wackligen Bistrotisch und die Gespräche drehten sie ausnahmslos um das Pilgern im Besonderen und im Allgemeinen. Neben den wirklich wichtigen Themen, wie „wo gibt es die neuen Compete-Blasenpflaster“ und was kann man bei Rucksackübergewicht machen, erzählte der ein oder andere Pilger von seiner Motivation. Interessanterweise fragten fast alle deutschen Pilger: „Seid ihr übrigens wegen des Buches unterwegs?“ Waren wir! Und so trafen wir in der Runde eine junge deutsche Pilgerin, die bereits auf dem Rückweg (!) von Santiago war. Wie die Motten ans Licht, so streben die Jakobspilger im Allgemeinen nach Santiago und nicht umgekehrt. Vermutlich hatten wir einen so ausgefallen ungläubigen Gesichtsausdruck, dass sie sich bemüßig fühlte, ihre Geschichte zu erzählen. Quintessenz war eine tiefe Lebensverunsicherung, eine seelische Grenzgängerin zwischen ebenjenen gesellschaftlichen Konventionen und scheinbar nicht zu definierenden Lebensmaximen sowie unwirklichen Freiheitsgedanken. Ihre Pilgerei schien wirklich ein Leidensweg zu sein, war ihre intensive Suche nach sich selbst doch nur ein spirituelles auf-der-Stelle-treten. Mit „Ich bin wohl noch nicht weit genug gelaufen“, verließ sie uns. Eigentlich empfanden wir die junge Frau als recht aufdringlich, ja sogar nervig - interessanterweise denke ich bis heute noch oft über diese Begebenheit nach. Im tiefsten Innern erinnere ich mit noch sehr genau an dieses Gespräch, an ihre verzweifelten Augen, die einem aufmerksamen Beobachter, trotz ihres affektierten Habitus, das Tor zur Seele offenhielten. Ihre Art, mit den Händen zureden und ihre Worte mit hilfloser Körpersprache Nachdruck zu verleihen; alles ist mir lebhaft im Gedächtnis geblieben. Eigentlich erstaunlich, denn der Jakobsweg ist voller Menschen der unterschiedlichsten Coloeur und fast alle haben ein Päckchen zu tragen - egal, ob es spiritueller oder physischer Natur ist. So sind die Cafés dieser Welt.

   Egal wo ich auf der Welt meinen Rucksack abgestellt habe, dort gibt es immer ein Café. Gefühlt ist es immer das Café am Ende der Welt - oder aber besser formuliert - für irgendjemanden ist das Café am Ende der Welt. Und immer tritt ein Mensch durch die Tür, dessen Geschichte mich tief berührt, nachdenklich macht und bereichert. In meiner Seele gibt es irgendwo einen Raum, einer Bibliothek gleich, in der diese Geschichten  gesammelt und verwahrt werden. So sind viele „Landkarten“ der Geschichten entstanden.

So sitze ich nun wieder vor einem leeren Blatt und versuch inhaltlich Ansprechendes und spirituell Tiefsinniges zu produzieren aus den vielen Geschichten, Begebenheiten und Ereignissen vom staubigen Straßenrand meiner Reisen.

   Wo beginnen, wo aufhören? Die Bustour durch die Berge nach Chichicastenango, mit der Lancha nach Honduras, der Motorradtour durch die Westsahara, Agua Azul im Regenwald, sternklare Nächte in der Thar Wüste, Tempel von MySon im Morgendunst, Morgenschnee am Sommerpalast der Kaiserin Cixi, Leoparden im Nebel, die Wurzeln von Angkor Thom, auf dem Tomatenlaster nach Belize? Leider bin ich ratlos, denn trotz aller Monumente von Weltrang, leben meine Reiseepisoden nur duch die Begegnung mit den Menschen, die am Rande dieser Welten leben. Interessanterweise kann ich die meisten Begenungen mit den Menschen in meinem Kopf sofort abrufen, der Rest ist vermutlich nur globetrotter-technische Makulatur. Vieles habe ich inzwischen aufgeschrieben, ja etliche Tagebücher gefüllt, manches damit vor meinem eigenen Vergessen bewahrt. Oft auf Karten die Routen festgehalten, minutiös die Stationen katalogisiert.

   Aber, trotz all dieser Akribie verschwimmen die Tatsachen, Fakten werden zu Geschichten, Geschichten zu Legenden und Legenden zu Mythen. 2005 begann ich zu bloggen, um den Verfall der Episoden zu Mythen vorzukommen. Auf einer rudimentären Plattform von blogspot wurden einfache Texte zum Beruhigen der Daheimgebliebenen verfasst, in den digitalen Orbit geschickt und die Welt schrumpfte auf die Maße einer LAN-Anschlussdose. Inzwischen ist daraus eine Webseite geworden, eine Sammlung, die die Farben der Welt festhält und mir hilft, mich durch die Begegnung mit Menschen der verschiedensten Kulturen der Wahrhaftigkeit meiner Seele zu erinnern. Je länger meine Episoden zurückliegen, umso verblasster sind selbstredend die erlebten Begebenheiten und erlauben dem gestressten Altagshirn die negativen Reiseerfahrungen mit idealistischen und beschönenden Fakten zu überschreiben, auch oder besonders Blasen an den Füßen!

   Nach all der Ernsthaftigkeit der letzten Absätze ist es Zeit, wieder das Augenzwinkern hervor zu holen. Dem geneigten Leser erspare ich minutiös-chronologische Beschreibungen. Wer eine Chronik erwartet, dem kann ich nicht helfen, er möge in eine Bibliothek gehen und sich einen Grimmelshausen holen. Wer Lust hat, sich auf einen Trip zu begeben, den lade ich ein - zum Lächeln, zum Schlucken oder zum Nachdenken. Das Bereisen eines fremden Landes verlangt einen speziellen Blick auf die Dinge, so möchte ich nichts verzerren oder beschönigen, auch wenn es manchmal unweigerlich zu kulturellen Missverständnissen kommt.....

    Das bringt mich unweigerlich nach Indien. Tja Indien. Wo beginnt man einen Bericht über ein Land, welches im tiefsten Innern seiner Seele eine Vielfarbigkeit aufweist, wogegen sogar eine Kölner Rosenmontagskanone nur schier farbloses Konfetti verschießt. Meine erste Indienreise war eine Ausgeburt abgrundtiefer Naivität. Schon die Planung war eigentlich nur reine Routine, so dachte ich. Zunächst hatte ich Farben im Kopf und dann dunkle Augen, sehr dunkle Augen. Wenn ich an Indien denke, schwingt für mich immer ein Hauch Dunkelheit mit. Nicht unbedingt merklich, mehr so zwischen den Zeilen. Schon lange bevor ich je indischen Boden betreten habe, visualisierte sich das Wesen Indiens mit ihrer unergründlich tiefen, für den Europäer eigentlich unbegreiflichen Spiritualität vor meinem geistigen Auge sehr dunkel. Seit mehr als dreißig Jahren bereise ich jetzt den Globus, ein Pilger auf der Suche nach den Farben des Lebens und trotz all dieser Erfahrungen lag Indien in meinem Denken immer im Dunkeln. Hier fehlt die helle leuchtende Farbe der Leichtigkeit, die mir Südostasien ans Herz wachsen ließ, die kräftigen leuchtenden Farben Lateinamerikas oder das unglaubliche Sonnenlicht in der ostafrikanischen Steppe. Indien war dunkel, mystisch, verführbar und mein verwöhnter Reiseintellekt malte sich mehr Geheimnisse des Orients aus, als sich hinter dem Schleier einer Liebesdienerin von 1001 Nacht verbergen.

   Nun ja, so wurde routiniert eine Tour geplant: Ein Mann, eine Landkarte, ausgefaltet zwischen zwei Kaffeetassen und der Zeigefinger begann einem Scanner gleich Routen, Straßen, Berge, Flüsse, Seen und Wälder in meinem Kopf in bildhafte Sinnenwahrnehungen zu transferieren, an deren Ende flüsternde Stimmen der Basare, Gerüche von Gewürzen und dem lieblichen Lächeln dunkelhäutiger Odalisken meinen Kopf füllten. Schnell stand ein wager Touristentrail fest, mehrere 1000 Kilometer durch das Land der Maharadschas und fliegenden Teppiche. Während ich das hier schreibe, muss ich schmunzeln, denn der geneigte Orientreisende hat seine Rechnung ohne die Inder gemacht...

   Normalerweise ist mein Motto immer „on the road“ und „by any means“. Nun gut - in den meisten Teilen der Welt geht das hervorragend. Ob auf einem Bus durch Guatemala, mit dem Zug durch die Steppe Ostafrikas, zu Pferd über den Camino Real nach Santiago de Compostela oder mit dem Moped am Mekong entlang.... Irgendwie geht es immer weiter. So auch in Indien. Dennoch hatte ich mich völlig verschätzt, welchen kleinen, aber feinen Eigenheiten dem indischen Transportgewerbe innewohnt. Die vielen Kilometer, die meiner Planung nach auf dem Programm standen, entwickelten sich zu buschstäblichen Ritt nach Laramie. Bevor ein falscher Eindruck entsteht: das Bahnwesen in Indien ist hervorragend organisiert, wenn man es durchschaut hat. Die Züge sind super pünktlich, wenn man denn im richtigen Gefährt sitzt. Der transportverwöhnte Europäer erwartet lückenlosen Anschluss aller Kategorien des Gewerbes und ist maulig, wenn man eine gewisse Wartezeit extern aufgezwungen bekommt. So wurde ich eines Besseren belehrt. Ein Inder im Zug nach Bikaner zwirbelte seinen Bart, lächelte wissend und meine lakonisch, „du musst die Uhr außer Acht lassen...“. Wie wahr.....

   Als ich zuückkehrte wurde ich gefragt, was denn das Beste an Indien gewesen sei. Da musste ich nicht lange überlegen. Das Schönste an meiner Indienreise war eigentlich, dass sich, zwischen all dem Kram, den ich dabei hatte, auch ein bestätigtes Rückflugticket finden ließ.

   An dieser Stelle sollte ich darauf verweisen, dass ich über bescheidene Reiseerfahrung auf verschiedensten Kontinenten verfüge. Nur zur Sicherheit, bevor der geneigte Leser den Eindruck bekommt, ich wäre ein verwöhnter Pauschaltraveller oder der Indientrip wäre eine globetrotter-technischer Erstversuch. Man kann mir nicht nachsagen, ich wäre nicht offen für abenteuerliche Begebenheiten. Bespielsweise wies mal ein Hotelier in Polen jegliche Verantwortung für mein Motorrad während meiner Übernachtung von sich. Ich schlug vor, es in seinem Billardroom zu parken, mehr so im Scherz - er fand die Idee letztlich gut und so wurden zwei 250kg Maschinen auf seinem grünen Teppich geparkt...

   Aber Indien traf mich wie ein .... - eigentlich gibt es keine Beschreibung dafür! Vielleicht hilft eine Anekdote meines ersten Indientrips. In Varanasi traf ich auf einen jungen Engländer, der mir von seinen 17 (!) Indientrips berichtete. Mit schier ungläubigem Staunen betrachtete ich seine Aussage, hatte er doch wenige Minuten zuvor davon berichtet, dass er nach seiner ersten Indienreise niemals wieder einen Fuß auf indischen Boden zu setzen gedächte. Lustigerweise traf das genau meine damalige Gemütsverfassung. Tief in Gedanken ließ er mich auf der Dachterrasse sitzen und vor dem Hintergrund eines dunstig-kitschigen blutroten Sonnenuntergangs hoch über dem träge dahin fließenden Ganges, versuchte ich Erklärungsansätze für sein abnormes Verhalten zu finden.

   Leichter Nebel säumte zur Dämmerungsstunde die Uferbänke des Ganges, an den Ghats wurden die Feuer entzündet und das Stadtecho Varanasis verschwamm zu einer mystischen hohl klingenden Stimmung Kiplings. Hin und hergerissen versuchte ich mir meiner widersprüchlich-unergründlichen Gefühle für Indien klar zu werden. Natürlich bin ich zu keinem Ergebnis gekommen, denn mit dem Einsetzen dieser unfassbar romantischen Sonnenuntergangsszenerie erwachte die Stadt zum Leben. Wo gerade noch dumpf-nebulös verschleierte Wortfetzen und Motorengeräusche zum Hoteldach hinaufschallten, setzten nun heiße Beats ein und DJ Shiva begann neonglänzende MTV-RAP-Rhythmen durch die Altstadtgassen von Varanasi zu treiben. Angefüllt mit diesen Eindrücken beschloss ich meine morgige Etappe nach Darjeeling vorzubereiten und griff zum Reiseführer. So las ich, dass die allabendlich auftretende romantisch-mystische Stimmung an den Ghats durch überschüssige Produktionsgase erzeugt werde. Flussaufwärts befinden sich verschiedenste Geschäftszweige der petrochemischen Industrie, die gegen Abend ihre Produktionsventile entlüften und das Gas über dem Ganges freisetzen, auf das der gesamte Uferbereich Varanasis, je nach geneigter Windrichtung, die atmosphärische Ausrichtung Londons im November bekommt. Man kann nicht sagen, dass sie nichts für den Reisenden und sein Bedürfnis nach Exotismus tun, nein wirklich nicht.

   Dieses Erlebnis lässt mich immer wieder schmunzeln, so bitter es im Grunde auch ist, nichts spiegelt die Widersprüchlikeit Indiens so wieder, wie Varanasis romantische Sonnenuntergänge am Ganges.

   Und doch regte sich da immer ein kleines Flämmchen in den Tiefen meines Herzens. Über die Jahre wuchs meine Überzeugung heran, dass ich Indien noch eine zweite Chance geben sollte, nein besser gesagt geben musste. So las ich unzählige Seiten meiner damaligen Reisebeschreibungen, um die inzwischen verinnerlichten Mythen wieder in nackte Fakten zu verwandeln.

   So wurde eine erneutes Aufeinandertreffen von Ost und West geplant. Da ich aus familiären Gründen gezwungen war, meinen Blog vorübergehend stillzulegen, wurde die Idee der indischen Reisedepesche geboren. Normalerweise führe ich auf Reisen ein digitales Tagebuch - aus praktischen Gründen heraus - ich tippte inzwischen einfach schneller, als ich von Hand schreibe. Außerdem verarbeite ich meine Begegnungen immer mehr zu Reisefilmen, sodass fast mein gesamtes Umfeld nach indischen Erlebnissen verlangte. Täglich verschanzten wir uns also mindestens einmal in irgendeiner indischen Restauration, um die Erlebnisse des Tages rekapitulieren zu lassen. Neben dem Effekt, dass man Vieles bewusster in seinen Erinnerungen festhält, kann man auch noch die vorbeiziehenden Menschen beobachten oder gar mit ihnen ins Gespräch kommen. Für mich sind diese Beobachtungspausen genau das, was den Reiz des Reisens ausmacht: die Welt zieht vorbei, unverschnitten, real- durch alle verschiedenen Farbschichten bis auf das blanke Metall - den wahrhaftigen Grund, die Seele einer Kultur.

   Vor Jahren saß ich mal in einer Kneipe in irgendeiner, von mir längst vergessenen guatemaltekischen Grenzstadt im Jungel zu Belize und wartete auf den Bus nach Belize City. Während ich da so rumhockte unter einem verrosteten Gallo-Cerveza Schild, gesellte sich ein Guatemalteke zu mir - einfach so, ohne zu fragen. Er schaute mich an, ich schaute ihn an - verunsichert - unbeweglich, nur in seinen kleinen flinken Äuglein war Leben. Also begutachteten wir uns eine ganze Zeitlang - er schien wie erstarrt. Nach unseren Maßstäben hätte man ihn schmierig bezeichnet mit seinem durchgeschwitzten Hemd, dem abgegriffenen Strohhut, den knappen Jeans der Landarbeiter auf den ausladenden. Hüften und seinen unrasierten schwitzigen Wangen - aber im Hinblick auf Temperatur und Luftfeuchtigkeit, wäre ich ebenfalls als schmierig durchgegangen. Ohne Vorwarnung verzogen sich seine Gesichtszüge zum breitesten Grinsen, was man sich vorstellen kann und während sich um seine Äuglein hunderte von krähenfüssigen Lachfalten bildeten, schmettert er mir ein ganz herzliches „Qué tal amigo“ hin. Stimmung gelöst, Herzlichkeit weht über den Tisch und eine Kommunikationsebene am Ende der Welt nimmt seinen Lauf. Natürlich würde ich jetzt gerne berichten, dass wir über Kafka und die französische Revolution diskutiert hätten, aber die Wahrheit ist, dass wir kaum in ein Gespräch gekommen sind - mein Schul-Castellano und sein breiter guatemaltekischer Landakzent waren einfach unvereinbar. Trotzdem wurde die Zeit bis zur Abfahrt meines Überlandbusses sehr kurzweilig. Er redete pausenlos, mit gestikulierenden Handbewegungen unterstützte er das Gesagte, stelle Fragen, die ich sprachlich nur durch die Intonation identifizieren konnte und am Ende zog er - mit anscheinend befriedigter Neugierde - von dannen. Über 20 Jahre ist das jetzt her und doch sehe ich ihn vor mir, als wäre es gestern gewesen. Zwei Welten treffen auf einander, für einen kurzen spannenden Moment öffnen sich die Tore zur jeweilig anderen und man kann für einen kurzen Moment das Leben durch die Augen seines Gegenübers betrachten. Was für ein faszinierendes Erlebnis kann es für einen Menschen geben, aus sich heraus zu treten und für den Moment in die Haut eines völlig anderen Menschen zu schlüpfen. Nicht jedermanns Sache - wohl wahr - aber für mich einer der spannendsten Momente auf Reisen, zeigt er mir doch mit welcher Leichtigkeit unser Leben gesegnet ist - der geneigte Leser weiß schon - die Sache mit dem grünen Gras und dem Zaun....

   So entstanden täglich indische Depeschen, die per Email in die Welt gingen. Natürlich haben alle meine englischsprachigen Freunde rumgemault, warum ich denn nicht gleich auch alles mit in Englisch abfassen würde, oder gar ausschließlich in dieser internationalen Sprache. Als wir wieder daheim waren, verlangten alle nach den Restbeschreibungen oder besser noch gleich alles in Buchform.

   Also begann ich das ganze Geschreibsel zu überarbeiten, mehr und mehr Details fielen mir wieder ein und im Hinblick auf das Schreibvolumen ist der inhaltliche Kontrast zwischen den ersten 10 Tage und dem Rest der Reise sehr deutlich. Zugegeben - diese Lebensmittelvergiftung hat mich physisch schon ziemlich mitgenommen und auch an die Grenze gebracht! Aber auch das ist eine Erfahrung und die Konsequenz ist, dass ich weiterhin eher in Garküchen als in Restaurants essen werden - außer in Delhi - da esse ich in der Regenzeit gar nicht mehr!


                         I.G.             Münster, im August 2019


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