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Mit Oberst Singh am Rand der Seidenstrasse . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • 17. Juni
  • 23 Min. Lesezeit

Depesche 19 - Jaisalmer -2018


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Trotz der himalayaverdächtigen Höhe des Bettes schlafe ich tief und traumlos, es gibt keinen freien Fall oder erneute Besuche bei Fachvertretern des indischen Klinikwesens. Erwartungsgemäß versinkt das Helsinki House des Nachts in einen Dornröschenschlaf - nicht zuletzt wegen seiner Randlage - und nur das ewige Singen des Wüstenwindes, der um die verzierten Mauern streicht, begleitet das Starten eines komatösen Flugs mit dem fliegenden Teppichs.

   Schon um 08:00 Uhr morgens flimmert die Luft am Horizont Richtung Westen, wo die Sanddünen beginnen. Ca 240000km2 umfasst das direkte Wüstengebiet der Thar, es ist nahezu doppelt so groß, wenn man die Dornsavanne als Übergangszone mit hinzu nimmt. Ganz schön viel Sand. Der Sandkasten reicht bis weit nach Pakistan hinein und die Sanddünen von Sam liegen etwa 50 km von der Grenze entfernt. Die Nähe zur Grenze ist hier nicht so spürbahr wie in Amritsar. Es gibt paar Hinweise auf Militär in Jaisalmer und auch eine Air Base, das wars aber auch schon. Im Gegensatz dazu wird es in Amritsar eher als farbenfroh-mi- llitärische Folklore mit ganz viel Testosteronvergleich genommen..... also, so im Rahmen von, “wer hat den Längeren”. Bei vertieftem Interesse sollte der geneigte Leser sich das mal ansehen -man muss ganz einfach mal bei youtube nach der Wachablösung an der Grenze von Amritsar/Lahore suchen.... sehr skurril das Ganze.


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   Unter dem stetigen Flattern des Sonnensegels beginnen wir das Frühstück auf der Dachterrasse des Helsinki House. Während wir dabei die Landkarten ausbreiten, reichen uns die Angestellten Tee und Kaffee, denn seit dem Vorabend haben wir neue Freunde. Abends zuvor haben wir im Dachrestaurant gegessen und mussten feststellen, dass das Essen dort vorzüglich ist. Chicken Tikka Masala können sie - was Anni hatte kann ich nicht aussprechen, aber es war wohl vorzüglich. Darüber hinaus blieb es drin! Nach unserem essenstechnischen Waterloo in Delhi gibt es nur noch zwei Indikatoren für die indische Küche - es schmeckt und bleibt drin! Des Nachts war die Festung in den Farben der indischen Flagge angestrahlt, der Unabhängigkeitstag naht - soviel ist klar. Mitten in der Dunkelheit erheben sich die gewundenen Festungswälle, grün, weiß und orange angestrahlt, unter einem dunklen, blauschwarzen und leicht diesigem Himmel. Untermalt wird das Ganze vom stetigen Konzert der Zikaden, dem leichten Singen des warmen Wüstenwindes und den gedämpften Gesprächen an den kerzenbeleuchteten Tischen.


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   Zwischen Anni und dem Koch entbrennt ein leidenschaftliches Gespräch über die indische Küche und bald sind wir umlagert von der ganzen indischen Servicecrew, die die heimische Küche in den schillerndsten Farben preisen. Kurz entschlossen frage ich, ob wir am kommenden Abend in der Küche Anregungen sammeln dürfen..... Das haben sie nicht erwartet und eine unglaubliche Diskussion entbrennt - in indischer Sprache versteht sich - in der das Für und Wieder des ungehinderten Topfkuckens der Bleichgesichter in indischen Töpfen erörtert wird.

   Zwischen den Kaffee- und Teegläsern breiten wir unsere Karten aus und beginnen den Ritt mit der Royal Enfield zu planen. Da der Maßstab unserer Landkarte keinen Einblick in die Straßenwelt der näheren Umgebung von Jaisalmer hergibt, übergab man uns bei der Mopedvermietung großzügigerweise aufwendigst gestaltetes indisches Kartenmaterial. Hm - nun ja wie soll ich sagen... bei der ersten Sichtung dieses karthograpfischen Kleinods war ich mir nicht sicher, wie wir denn wohl zwischen all den Feldwegen, Trampelpfaden und Schotterpisten wohl die richtige Strecke rausfinden sollten.


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   Der Mopetenvermieter zeigte sich abends zuvor unglaublich zuversichtlich, dass wir den richtigen Weg zu den Kulturstätten wohl finden würden. Unsere offenkundige  Unsicherheit veranlasste ihn dazu, einfach alle Sightseeingobjekte mit seinem Einwegkugelschreiber zu umkringeln und per Ausrufezeichen zu markieren. Danach strahlt er uns hoffnungsvoll an und mit einem hastigen Namaste seinerseits werden wir mit dem Mopedschlüssel, Helmen und der Karte herauskomplimentiert. Schließlich ist Feierabend und er hat nicht den ganzen Tag Zeit für uns.....

   Vergeblich versuchen wir zwischen dem indischen Navigationshilfsmittel und unserer Karte Parallelen zu finden - zwecklos, wir geben auf und begeben uns in Shivas Hände! Also vor 30 Jahren bin ich mal - nur mit einem Kompass bewaffnet - durch die Westsahara gefahren - also was sind da schon 250000km2 Sand.

   Wir hängen eine Canvastasche an die linke Seite der Karre - das ist da, wo die Konstrukteure in Mangalore ein Gitter am Schutzblech angebracht haben - die bis oben hin mit Sonnencreme und Wasser gefüllt ist. Das Gitter  ist übrigens für die indische Frau, die - bekleidet mit Sari - im Damensitz dort ihre belatschten Füße geschützt hat und der flatternde Schnapp des Saris nicht in die Speichen kommt. Saritechnisch macht das wohl Sinn, leider ist das Gitter so großspeichig, dass ich mir nicht sicher bin, ob nicht genau das das Einwickeln der bunten Zipfel in der hinteren Radnarbe begünstigt. Aber Anni ist der Meinung, dass Damensitz nix für ihre Cargobuxe ist, also dann halt normal platznehmen, anschnallen und Motor an.


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   Die Enfield erwacht mit einem sonoren Bullern aus ihrem Wüstenschlaf. Ein bisschen hab ich ein schlechtes Gewissen als wir den engen gepflasterten Weg Richtung Stadtzentrum fahren, denn der knatternde Schall wandert zwischen den Hotelwänden empor und wird damit bestimmt die ein oder andere bleichgesichtige Schlafmütze unsanft wecken. Aber schließlich sind wir in Indien und wer eine Enfield fährt, will gefälligst auch wahrgenommen werden! Jawohl! Zuerst zur Tanke, dem Tankinhalt ist nicht zu trauen - ehrlich gesagt traue ich der ganzen La Machina nicht...... Alles an der Kiste rappelt, die Bowdenzüge knarzen - vor meinem geistigen Auge sehe ich bei jedem Anzug der Kupplung wie sich langsam Spliss in den Metalldrähten bildet und sie dann wie in Zeitlupe reißen - der Motor hört sich an wie ein Sack Muscheln und mein vierventilverwöhntes Ohr klebt förmlich am Zylinderkopf auf motortechnische Anomalien lauschend. Aber nach indischen Verhältnissen ist der Bock in einem Topzustand und - wer glaubts - wir kommen problemlos zur Tanke. Die kleine Offroadstrecke zum Hotel hatten wir ja am Vorabend schon getestet und aus das ging hervorragend - mit dem nötigen Gasdurchzug geht auch Sand. Gegen 10 Uhr befinden wir uns auf einer der ungenauen Linierungen, die unsere indische Landkarte als Straßen ausweist. Unsere Sorge hinsichtlich der maßstabsgetreuen Darstellung asphaltierter Karawanenstraßen war völlig unbegründet - es gibt nur die eingezeichneten Linien - verrückte Welt. Eine Abzweigung auf der Karte ist real vorhanden - sonst gibt es einfach keine Straßen. Cool, wer braucht schon Google Maps, wenn es lediglich eine Straße gibt. Unter gleichmäßigem Brummen rollt die Enfield über die schnurgerade Straße, deren Ende im Flimmern der Hitze nur noch undeutlich auszumachen ist, Richtung Norden. Nach und nach verschwinden die letzten Siedlungen, bewässerte Flächen verwandeln sich in eine karge Steinöde und die Dornsavanne mit ihren struppigem Buschwerk dehnt sich bis zum Horizont. Plötzlich sind wir allein auf der Straße - abgesehen von einigen wenigen, natürlich grell bemalten Tatas.


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   Einige Kilometer hinter Jaisalmer taucht in Sichtweite der Straße nach Ramgarh das Cenotaphenfeld Bada Bagh auf. Auf einem steinigen Hügel liegt eine staubige Ansammlung leerer Gräber aus gelben Wüstenstein, mit filigranen Kuppeln im klassischen Rajasthani-Stil. Bada Bagh heißt soviel wie „Großer Garten“ - also der beeindruckte Leser kann ruhig weiter in seiner Bewunderung verharren, leider müssen wir dieses Wissen dem fast volljährigen Motorradvermieter zu schreiben und nicht etwa meinem flüssigen Hindi. Die Topographie ist hier sehr hügelig und die Cenotaphen sind umgeben von einer grünen Oase, die aus einem flachen See besteht, der von Mangobäumen umgeben ist. Außer uns ist nur noch ein struppiger Hund und ein verschlafener Museumswächter anwesend, der uns mit einem Schlafzimmerblick mitteilt, das filmen und fotografieren strengstens verboten ist, wir aber eine amtliche DvD käuflich erwerben können. Der Lederriemen meiner schwer kamerageschwängerten Umhängetasche schneidet sich tief in mein Schulterblatt ein, als ich gelobe neben meinem Handy gar kein weiteres technisches Equipment dabei zu haben. Anscheinend habe ich die rote Druckstelle durch meine schamlose Flunkerei mehr als verdient. Da Hund und Wächter sich stante pede wieder in den Schatten auf Sandsteinpodest mit Grabinschrift zurückziehen, kann ich sogar ungehindert mein Stativ aufbauen.


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   Die ganze Anlage ist von Windrädern umgeben, was für den Betrachter zu der ziemlich skurrilen Empfin- dung führt, man wäre am Set vom Blade Runner 2049 gelandet. Die Ebene der Steinwüste erstreckt sich bis zum Horizont. Immer wieder tauchen in der vermeintlichen Unendlichkeit Luftspiegelungen auf, suggerieren große zusammenhängende Wasserflächen, nur um sich Sekunden später flirrend wieder aufzulösen. Das monotone Rotorengeräusch der entfernten Windräder lässt die eigentliche Stille des Ortes viel intensiver erscheinen. Wir streifen durch die aufgereihten Tempel verschiedenster Bauart, deren gelber Sandstein vom umherwirbelnden Sand aufgeraut ist. Ecken und Kannten existieren nur noch rudimentär, gebrochen vom stetigen hin und her der Elemente, was den einzelnen Bauten einen eher windschiefen Charakter verleiht. Was die Maharadschas bewogen hat ,hier ihre Gedenk-tafeln zu errichten, ist mir schleierhaft. Der Ort ist an Einsamkeit nicht zu überbieten und wenn man den Blick schweifen lässt, wird jedem spätestens jetzt klar, dass man sich in einer gottverlassenen Einöde befin- det. Trotz der - inzwischen zusätzlichen Besucherschar, bestehenden aus einer Chinesin - scheint es der verlassenste Ort in ganz Indien zu sein. Gut - das ist relativ einfach zu bewerkstelligen, statistisch befinden sich in Indien 24,347 Personen pro Quadratmeter, wenn also bei einer 360 Grad-Drehung nur zwei weitere Personen ins Blickfeld geraten, muss es die pure Einsamkeit sein. Aber natürlich hat dieser Ort einen besonderen Charme, der aus einer Mischung von Stille und Einkehr besteht. Nicht zuletzt ist in mitten dieser öden Wüstenei die Platzierung der Bauten ein exotischer Hochgenuss. So lungern wir ziemlich lange hier herum - der geneigte Leser um die 20 würde es als chillen bezeichnen - ho- cken zwischen den aufgetürmten Steinen im Schatten von hübsch verzierten Kuppeln oder Spitzdächern und lassen diesen Ort auf uns wirken.


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   Dann sind wir wieder auf der Strasse nach Ramgarh, fliegen förmlich über die aufgeheizten weichen Asphaltwellen. Unvermittelt kreuzen wir eine Querstraße, Verwirrung, ist das schon der Abzweig auf unserer Strichkarte? Sieht eher aus wie ein mittlerer Landwirtschaftsweg zwischen Münster und Kattenvenne. Beschließen weiter geradeaus zu fahren und auf der Hauptstraße zu bleiben bis eine adäquate Hauptstraße kreuzt. Doch etliche Kilometer weiter müssen wir einsehen, dass man der Strichkarte einfach trauen kann! Es gibt nur die eingezeichneten Striche, es gibt einfach keine anderen Straßen, ja nicht einmal Trampelpfade. Bei der Wende auf offener Straße passiert etwas Seltsames. Wir halten am Straßenrand, Blick links, Blick rechts - freie Bahn und alles klar zur Wende. Als wir mitten auf der Straße sind ertönt, das wütende, bei-nah aggressive Gejödel einer ziemlich schnell nahende LKW-Hupe. Adrenalin ist was wunderbares, das wie tausend spontane Nadelstiche in meinem Nacken anfühlt - lasse die Kupplung fliegen, trete krachend den nächst höheren Gang rein und gebe Vollgas. Die ganze Maschine erzittert, jault auf und schießt vor dem LKW in die Spur und gewinnt rasch an Tempo. Durch die Luftspiegelung haben wir den riesigen, bemalten Haufen Tata-Blech einfach nicht gesehen! Wirklich seltsam - genau die Straße beobachtet und das riesige Ding einfach in der flirrenden Hitze nicht wahrgenommen..... Wunder über Wunder des Orients.

   Also zurück zur Kreuzung, abgebogen und fast in die erste Ziegenherde des Tages gerauscht. Wir werden böse angeblöckt und ich beiße auditiv mit der Hupe zurück, was alle Zicklein wieder in den Straßengraben treibt. So steuern wir den nächsten Jaintempel auf unser Strichliste an, ohne die Frischfleischproduktion von Jaisalmer unfreiwillig zu bereichern.

   Die Zufahrt zum Tempel, der eher die Größe eines Zeitungskiosks in Gelsenkirchen-Ückendorf hat, ist mit hellem Bruchstein geschottert. Das eirige Hinterrad schwimmt auf diesem Belag und während wir mit viel Gas dem Tempel entgegenötteln merke ich, dass die Trockenheit scheinbar riesige Dornenmengen von den heimatlichen Geäst der Sträucher gelöst hat und der Wind für eine gleichmäßige Verteilung selbiger zwischen das Bruchgestein gesorgt hat..... Augen zu, Gas und durch! Wir werden sehen - ob eine Shiva-Donation uns vor dem Reifenwechsel in glühender Mittagshitze bewahrt . . .


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   Ein kleiner Jaintempel - dessen unausprechlicher Name mir einfach entfallen ist - steht verlassen zwischen niedrigen krüppeligen Dornhecken auf knochentrocke- nem gelbbraunen Gestein. Der stetige Wüstenwind läßt ausgefransste gelbe Gebetfahnen hektisch auf und ab flattern. Inzwischen haben wir die Mittagszeit erreicht, der Himmel hat die Farbe von hellem Blei angenommen und in den Dornhecken verbreiten Heerscharen von Spatzen puren animalischen Aktionismus.  Brav ziehen wir am Eingang unsere Schuhe aus - behalten weicheimäßig aus verbrennungstechnischen Gründen die Socken an - der weiße Marmorboden ist so aufgeheizt, dass die Socken beinahe anfangen zu qualmen. Zwei tuschelnde Frau kommen uns entgegen, als wir den Innenhof betreten. Mit ihren unfassbar bunten Saris sehen sie aus wie Quotenfarbtupfer vor der Strenge des weißen Marmorgesteins. Neugierig, aber überaus sympathisch, werden wir von oben bis unten gemustert. Ihr glucksendes Lachen ist noch draußen vom Vorhof her zu hören - ich bin sicher - die rote Naht an meiner oliven Cargobuxe ist der Anlaß ihres ungehemmten Heiterkeitsausbruchs. Im Innern des kleinen Heiligtums stehen drei Gottheiten, deren Namen ich nicht aussprechen geschweige denn behalten kann, vor einer spät 80er Jahre Discodecke. Die Augen erinnern mehr an Marty Feldmann, aber wer weiß, was bei uns physisch mit Makel behaftet ist, wird hier als speziell und oft göttlich verehrt. Besonders apart finde ich den hinduistischen Opferstock, wofür man eine metallene Munitionskiste für MG-Rabatten zweckentfremdet hat und diese auch noch liebevoll mit RAL 3000 - Feuerwehrrot angemalt hat. Ansonsten ist hier alles menschenleer und die Stille wird nur vom Wind und dem aufgeregten Fiepen wahrer Herrscharen von Spatzen untermalt.

   In der Gluthitze der Mittagszeit teilen wir die Straße wieder mit etlichen Ziegenherden, ohne einen Zusammenstoß, den einige der gehörnten Vertreter scheinbar absichtlich durch ultraplötzlichen Fahrbahnwechsel provozieren wollen. Doch wir erreichen unversehrt den Lodrawa Jain Tempel, ein kulturelles Kleinod, das etwa 15 km westlich von Jaisalmer in der Ebene liegt. Am Eingang hatte sich eine Ziege vorschriftsmäßig auf einer Bank platziert, was den Reisenden zunächst verwundert. Dann aber die Lösung dieser kniffligen Frage: Am Ticketschalter des Lodrawa Jain Tempel wird der weibliche Tourist dreisprachig darauf hingewiesen, dass sie gefälligst draußen zu warten hat, wenn sie ihre Tage hat! Nun es war vermutlich eine Ziege und kein Ziegenbock und das arme Tier hatte ihre Tage! Jawohl - ab nach draußen auf die Bank!


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   Das Schicksal dieses Tempels ist natürlich gekennzeichnet durch Mord und Totschlag am Rande der Sei- denstraße. Um 1100 zerstört und gegen 1615 wieder in der heutigen Form aufgebaut, wenn ich den ganzen Gedenktafeln im Tempelbezirk glauben schenken darf. Obwohl nicht groß, ist der Tempel doch ziemlich eindrucksvoll und spirituell ziemlich aktiv, seiner Lage am Ende der Welt zum Trotz. Gewidmet ist die Steinbude dem 23. Tirthankara Parshvanatha - so das sprechen wir jetzt ganz langsam dreimal hintereinander - irgend ein Erleuchteter Jaintyp aus dem 8./9. Jahrhundert vor Christ. Alles hab ich nicht begriffen, was da so im Tempel zu lesen war - vermutlich weil jedes zweite Wort auf Hindi war und die durchschnittlich mindestens 12 verschiedene Vokale beinhalten, was die Lesbarkeit doch geringfügig beeinträchtigt . . . Trotz der geringen Größe ist dieser Tempel wirklich sehenswert, unglaublich gut erhalten und architektonisch sehr spannend. Völlig anders als die Profanbauten der Rajputen, ganz im sakralen Architekturstil der Tempel von Khajuraho. Khajuraho liegt im Distrikt Chhatarpur im Norden Madhya Pradeshs und die dort stehenden Tempel gelten mit ihren hohen Shikhara-Türmen als architektonisches Grundmuster für den Hindutempel.


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   Aufgeräumt ist der Lodrawa Tempel, da kann man nicht meckern - der Boden ist penibelst gefegt und gewischt, eher ein Novum in indischen Sakralbauten - alle Kupferschüsselchen sind gereinigt und sauber gestapelt. Irgendwo hängt der Wochenplan für die Schlangenbeschwörungen - war so perplex, dass ich echt vergessen habe,  das Schild zu fotografieren. Gut - Schlangen sind eh nicht meins, Annis sowieso nicht ,aber vielleicht sind das auch nur christlich induzierte Unterbewusstseinsstörungen und man sollte mal für ein zünftiges Schlangenbeschwören offen sein. So in meditativer Hinsicht, vielleicht etwas Hata-Yoga vorweg, durchlockern, dann mit seiner filigranen Holztröte das Viech in seinem Korb hypnotisieren und versuchen ob man durch sauberes Tonblasen den doppelten Palstek hinbekommt. Mein Segellehrer mochte meine Knotentechnik jedenfalls, ob so eine Königskobras den Wert zu schätzen weiß, bliebe einem Feldexperiment überlassen. Wenn ich allerdings an meine Fähigkeit denke, unter der Dusche den Ton zu halten, bin ich mir nicht sicher, ob sich das schräg beschallerte Reptil nicht aus Verzweiflung bemüßigt fühlt, den nächstbesten zu beißen - nach meinem Dafürhalten wäre da der Hata-Yogalehrer die beste Wahl. Verwerfe meine Zukunft als Schlangenbeschwörer, obwohl mir die Turbane, die die Jungs tragen, schon zusagen. War mal Zeuge mehrerer Vorführungen dieses Gewerks und bin mir nicht sicher, ob alle Traditionen des Orients wirklich Zukunft haben. Aber man unterschätze niemal den Erfindungsreichtum der Inder. Trotzdem bleibe ich noch sinnierend vor dem Schlangenstundenplan stehen und versuche vor meinem geisitigen Auge den Akt als solchen zum Leben zu erwecken. Wie immer interessieren mich so die alltäglichen Dinge rund um die Jobs in anderen Ländern - allein die Jobbezeichnung ist doch schon der Hit - Snake-Charmer - Schlangenbeschwörer triffts ja eigentlich nicht so richtig. Die richtige Übersetzung wäre da wohl Schlangen-Umschmeichler. Nicht unbedingt mein Jobprofil, aber was sagen viele Menschen in jungen Jahren, wenn der Berufsberater Alternativen aufzeigen möchte: “Ich möchte gerne was mit Tieren machen!” Also warum nicht eine Karriere als Schlangen-Umschmeichler im Lodrawa Tempel in Jaisalmer? Feste Arbeitszeiten per Stundenplan, einfach zu transportierende Arbeitsmittel und das Ladenlokal ist mit einem handelsüblichen, von kleinen Inderhänden gewaltfrei geknüpften, Teppich bereits voll ausgestattet. Fehlt nur noch die Tröte und ab geht die musikalische Schlängelei. Natürlich gibt es da auch noch Fragen, die man vor seiner Existenzgründung eines durchschnitt- lichen Beschwörereibetriebes unbedingt mit seinem indischen Steuerberater klären sollte. Ist das schleimige Reptil ein steuerlich absetzbares Arbeitsmittel, die lederne Transportbox hingegen nur Luxus, weil man auch einen handelsübliches Körbchen nehmen könnte. Snake-Charmer - Ausbildungsberuf oder Anlernberuf? Was sagt die Schlangengewerkschaft zu Hitzefrei, wo die Viecher doch meist auf Eis liegen, damit die fulminante Geschwindigkeit des Genatters nicht das ein oder andere Maleur im Zuschauerraum hinterlässt, mögliche Versicherungen gegen Bisswunden mit Todesfolge im Auditorium, und, und, und.... Der Reisende steht mit seinen Fragen an das Leben im Orient wieder einmal verlassen da.


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   Abgesehen von den wunderlichen Terminen des Tempels ist er wirklich sehenswert: Gelber Sandstein, verwinkelte Tempelbauten, reich verziert und damit ein tolles Beispiel für die seit dem 11. Jahrhundert übliche Quadratbauweise der Jain-Architektur. Wenn der geneigte Leser sich da jetzt viel tiefer in die Materie einarbeiten möchte, sind folgende Schlagworte unabdingbar: Brahmanismus, Garbhagriha, Sabhamandapa, Mukhamandapa, Tirthankaras, ... So, das lesen wir jetzt alle gemeinsam mehrere Male vor unter Betonung der a-Laute. Einfach mal probieren, so im Auto an der Ampel, in der Warteschlange beim Bäcker oder beim nächsten Familientreffen mit Tante Giesela - die Situation ermöglicht unendlich viele Kommunikationsanlässe!


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   Trotz der faszinierenden Architektur sitzen wir bald schon wieder auf dem heißen Ofen und knattern dem heißen Wüstenwind entgegen. Etwa 5 km südlich von  Lodrawa - eigentlich gehörte zu dem Tempel noch eine Stadt, aber die ist irgendwie in den Wirren von Mord und Totschlag abhanden gekommen - stoßen wir unvermittelt auf den Amar Sagar Tempel. Die 5 km hatten noch nicht einmal ausgereicht, um uns durchzukühlen und da zu dem Tempel ein künstlicher See gehört schien  Abkühlung zum Greifen nahe. Ha - was für ein Irrtum, der “See” ist nahezu ausgetrocknet und wenn man die Wasserlinie auf der Tempelmauer betrachtet, scheinen ein paar Meter Wasserspiegel zu fehlen. Das verbliebene Wasser ist - nun ja, wie sagt man - eher mit Sediment durchsetzt und den Hinterlassenschaften von wilden Hausziegen und  zahmen Wildkühen. Der Tempel ist geschlossen und liegt eher wie eine heruntergekommene Prachtimmobilie in der trockenen Landschaft. Besonders alt ist der Tempel nicht - so gegen 1928 von Patwa Bafna Himmat Ram (egal wer der Typ war - der Name ist irgendwie cool) erbaut, mutet er jedoch sehr viel älter an. Ist doch überall das gleiche  - unser Kulturkreis hat schließlich auch die Neogotik “erfunden”, die viel mehr gotischen Schnickschnack hat, als im Mittelalter je an einer hochgotischen Kathedrale verbaut wurde. Trotz der flirrenden Hitze machen wir hier Trinkpause und genießen die Stille, die nur vom Knacken des heißen Motors und den Kaugeräuschen von Kuh und Ziege untermalt wird. So nu´ wieder aufgepasst, frage das nachher noch mal ab: gewidmet ist der sakral-göttliche Flachdachbungalow mit Türmchen dem Gott Parshwanath und wird Adeshwar Nath Jain Tempel genannt..... - so die Fakten von irgendei- ner Gedenktafel am See, der keiner mehr ist. Wo wir gerade davon sprechen, eigentlich war der See mal als Wasserreservoir gedacht, eine vollständige Befüllung kommt heute aber nur noch in der heftigsten Regenzeit vor. Eigentlich befinden wir uns in der Mitte der Regenzeit, aber es ist so trocken, wie im Sommer in Rom. Heute Morgen habe ich gelesen, dass es ab der Region Goa bis in den Süden nach Kerala sinnflutartig regnet - eigentlich sollte es umgekehrt sein.... Wenn ich natürlich auf diese unbeschreiblich Verschmutzung von Land, Wasser und Luft bedenke, wundert es mich nicht, dass der Planet sich aufbäumt und zurückschlägt - aber dieses Thema sprengt den Rahmen dieser Depeschen.


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   Unsere Strichkarte führt uns auf direktem Wege zur Straße nach Sam. Die brütende Mittagshitze erleichtert uns die Entscheidung die Sanddünenfelder von Sam zu etwas späterer Stunde anzugehen und so landen wir zum Mittagessen im Saffron, ein Restaurant auf dem Dach des Hotels Nachana Haveli. Bevor man das Restaurant erreicht muss man durch das ganze Hotel, dessen Einrichtung den ein oder anderen Maharadscha in Udaipur oder Jodhpur erblassen ließe - seidenbespannte Divane an allen Ecken und Enden - Blumenkübel, Springbrunnen, Wandmalereien, Teppiche..... Jedwedes Parken ist im Innenhof durch die Hotelleitung bei polizeilicher Strafe strengstens untersagt und nur mit Mühe finden wir für die königliche Rennmöhre ein Plätzchen zwischen all den SUVs, die sicherlich alle nur be- oder entladen. Der Rezeptionist glotzt uns etwas mondkalbmäßig an, als wir im abgekämpften Wüstenlook durch die Edellobby stapfen, dann bemerkt er das Moped, grinst anerkennend und geleitet uns aufs Dach zum Restaurant. Wir werden an einen schmiedeeisernen Tisch gebracht, über dessen Orbit ein verbeulter Ventilator unermüdlich eirig seine Runden dreht. Begleitet vom Quietschen der windtechnischen Mechanik bringt man uns eine wohltuende Auswahl von Lassi und handgemachten Limonaden.

   Die handgemachte Limonade gibt es in Indien überall - auf der Straße und im Restaurant. Man drückt etliche frische Limetten in ein Glas - etwa ein Fünftel der Glasgröße -fülle den Rest mit Wasser und Eis auf. Der Rest ist einfach zu merken - man gebe mindesten drei Löffel braunen Rohrzucker dazu und rundet das ganze mit einem Minzblatt ab. Je nach sozialem Rang der Restauration schwangt die From, Größe und überhaupt die Existenz einen Minzblattes. Das Zeug ist unglaublich lecker, der Zucker macht es natürlich extremst böse. Auf der Straße habe ich das noch nie probiert - so wegen Wasserqualität, Hygiene, usw. - in Anbetracht der Tatsache, dass wir uns in einem Restaurant eine Lebensmittelvergiftung geholt haben, wäre eine frische Limo auf der Straße vermutlich ungefährlich.......


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   Der erhöhte Beobachtungsposten auf dem Dach des Havelis gibt uns die Gelegenheit die Festung Jaisalmer näher zu betrachten. Eigentlich ist sie nicht besonders hoch, doch die dicken Mauern, deren zahlreiche Wehr-türme so eingefügt sind, dass sie 270 Grad verteidigungsmöglichkeiten bieten, werden sicherlich so manchen Sturm ausgehalten haben. Paschtunen, Chinesen, einfach nur den nächsten Nachbarn - alle waren angezogen vom Reichtum der Seidenstraße.

   Heute kämpft Jaisalmer nur noch gegen die Touristen - die ganze Anlage ist Weltkulturerbe - und die Touristenströme, die hier fernab der Regenzeit einfallen, sind sicherlich für den Geldbeutel der Menschen ein Segen, für die ökologische Seite der Stadt aber vergleichbar mit einer Heuschreckenplage. Die Stadt hat keine richtige Kanalisation und so leiten die Menschen und natürlich auch die Hotels - ziemlich namhafte Hotels - die ihre Abwässer einfach in den Burgberg einleiten! Da das jetzt seit Jahrhunderten so  Usus ist, vergammelt der Berg förmlich von Innen heraus.... deshalb wollten wir ein Hotel außerhalb der Festung! Eine nähere Auseinandersetzung mit der Weltkulturerbestadt Jaisalmer verschieben wir auf morgen.

   Nun heißt es aufbrechen, 40km immer Richtung Westen, zum sandigen Teil der Thar Wüste, die bei ei-ner kleinen Stadt namens Sam beginnt.


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   Was berichtet man von einer faszinierenden Fahrt durch eine leere Landschaft? Da ja nicht jeder ein eingefleischter Motorradfahrer ist, wird der geneigte Leser den Reiz dieser Fahrt nicht nachvollziehen können. Der Wechsel von steiniger Dornsavanne zu pflanzenleerer Geröllwüste ist das erste sichtbare Anzeichen, für die trostlose Öde, die sich mit jedem Kilometer nähert. Entgegen jedem  - bisher in Indien besuchtem Ort - nimmt der Verkehr rapide ab, sodass wir schon 15 km hinter Jaisalmer allein auf der Landstraße sind. Das grau Band des groben Asphalts gleitet stetig unter uns weg und die Enfield läuft mit guten 80km/h gen tiefstehender Sonne. Die letzten merklichen Hügel senken sich in ihrer Topografie und wir durchfahren eine einzige endlose Ebene, deren undefinierbarer Horizont scheinbar mit dem bleigrauen Himmel im diffusen Licht verschmilzt. Längst sind unsere Gesichter hinter den Halstüchern verschwunden und der trockene Wüstenwind drückt beständig zwischen den dunklen Gläsern meiner Sonnenbrille. Aus Mangel an Handschuhen, ziehe ich meine Ärmel über die Hände, damit die Haut, trotz 30er Sonnenschutz, nicht verbrennt. Die braune steinige Erde, wird nach von immer mehr Sandfeldern unterbrochen, die der Wind hier und da schon über die Straße weht. Immer wieder müssen wir durch Sandverwehungen hindurchfahren und wo immer die Reifen auf Sand auffahren, fängt die kleine Maschine an zu schlingern. Schnurgerade zieht sich die Straße, die im Gegenlicht silbrig glitzert, durch die erdigen Sandtöne der Ebene und durch den schwingenden Rhythmus des Motorrades auf dem Straßenbelag bekommt die Szenerie etwas seltsam losgelöstes, ja beinahe entrücktes. Die Luft flimmert und wie schon am heutigen Morgen tauchen immer wieder imaginäre „Wasserflächen“ auf, um sich Sekunden später in der flimmernden Luft aufzulösen. Man ist allein mit sich, wie in einer Blase, in der Zeit stillsteht. Da wir keine Helmkommunikation haben, hängt jeder fasziniert seinen Gedanken nach, trägt doch das stetige Vibrieren des Motors zur visuellen Monotonie bei und führt - interessanterweise - zum Loslassen jeglicher Gedankenspiele, die dem strukturbelastete Bleichgesicht in seinem Alltag ankonditioniert werden. Nichts begrenzt den Blick, nichts begrenzt den Geist und so möchte man ewig dahingleiten, in einem einzelnen Moment geistiger Leere vollkommen eins mit sich und seiner selbst. Aber die spirituelle Entrückung findet ein jähes Ende, sehen wir uns doch plötzlich mit einem Schlagbaum konfrontiert, dessen verblichene schwarz-weiße Lackierung wie eine materialisierte Zäsur in der Entrücktheit meines Gehirns anmutet. Wir müssen Eintritt bezahlen - für die Wüste! 50 Rupien - etwa 65 Cent. Nun gut, das schaffen wir noch so gerade, ohne das wir eine Bankbürgschaft einholen müssen. Da steht auf einer kleinen Anhöhe, irgendwo im Nichts eine Holzhütte - ist ein bisschen übertrieben - mehr so ein hölzerner Verschlag - davor ein kakhiuniformierter Inder mit Sonnenschirm und kassiert 50 Rupien. Aus der ledernen Amtstasche, die am Wüstenwächter hängt zaubert er ordnungsgemäß eine Quittung - bin mir nicht sicher, ob der Preis für das Papier nicht die Eintrittsgebühr übersteigt - und anschließend öffnet er vorschriftsmäßig den Schlagbaum und es geht weiter. Doch mit der spirituellen


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Entrücktheit ist es nun vorbei. Hinter der kleinen Anhöhe reihen sich Hinweisschilder an Hinweisschilder, die von der Jeepsafari, über den Kameltrip bis hin zum Wüstentrekking alles anbieten, sogar die Übernachtung in Luxuslodges mit AC und Pool. Laut meiner Berechnung sind es mindestens noch 5-8 km bis Sam und vermutlich werden immer mehr Lodges gebaut, damit mehr Touristen versorgt werden können. Aber das Geschäft scheint um diese Jahreszeit nicht so richtig zu laufen, denn kaum erscheinen wir im Blickfeld der Tourguides, die am Straßenrand auf willige Bleichgesichter lauern, beginnt ein Exodus von Menschen, die auf die Fahrbahn springen und uns versuchen durch wildeste Handzeichen zum Anhalten zu zwingen. Mit dauergedrückter Hupe weichen wir allen Angeboten aus, denn wir wollen nach Sam. Wieder mal der totale Tourinepp, denn weit und breit ist noch keine einzige Sanddüne zu sehen und doch lungern schon Haufenweise gesattelte Kamele rum für den Lawrence-von-Arabien-Ritt. Unterwegs stehen immer wieder Reisebusse, um denen Eingänge sich chinesische Reisegruppen tummeln. Das Dorf Sam liegt auf einer kleinen Anhöhe, wir lassen es links liegen und und als wir über die Kuppe rollen, eröffnet sich ein unglaublicher Anblick. Bis zum Horizont erstrecken sich linksseitig der Straße gelbbraune Sanddünen bis zu Horizont. Auf der Straße fängt uns ein Inder ab, Haltung und Tonfall geben ihm einen offiziellen Anstrich und erfordert uns auf das Motorrad hier zu parken und auf ein Fahrzeug der Verwaltung umzusteigen. Aus welchen Grund will ich wissen.


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Touristen dürften nicht ohne Führer in die Wüste, so seine Antwort. Ich lächle ihn und sage, dass wir da wohl Glück hätten, denn wir seien keine Touristen. Damit hat er nicht gerechnet und sein schöner Plan scheitert an seiner Sprachlosikgeit. Da auf dem Parkplatz nur Mahindra-Jeeps eines Safari Veranstalters aus Jaisalmer geparkt sind, gebe ich Gas und lasse ihn stehen. Zwei Kilometer weiter - zwischen einigen Kamelverleihern setze ich Anni am Straßenrand ab, kreuze die Straße und parke die Enfield vor einem Teestuben-Supermarkt-Hybrid. Ich fühle mich irgendwie an einen Western von Sergio Leone erinnert. Ein Fremder reitet in die Stadt, bindet sein graues namenloses Pferd vor dem Saloon an, 1000 Augen folgen je-der seiner Bewegung. Der Besitzer hockt auf den Stufen seines Ladens - links einige Plastiktische, offenkundig die Teestube - rechts eine große gläserne Verkaufstheke, offenkundig der Supermarkt - nickt mir zu und fragt was ich will. Nichts! Nichts? Nichts! Nur parken. Dann der zweite Versuch, Touristen dürfen nicht allein in die Wüste, wir bräuchten einen Führer! Am besten sei ein Kamel, er könne mir eins vermieten, samt Führer. Good price, only for you. Dankend lehne ich ab, da ich kein Tourist bin. Nicht? Was ich denn dann sei? Also erzähle ich ihm eine Geschichte: Wohnhaft in Delhi, Berater der Indischen Armee, derzeit zur Tagung auf der Airbase in Jaisalmer, zu Gast bei Oberst Singh - der mir großzügigerweise sein Motorrad geliehen hat. Das ändert natürlich alles, er zuckt mit den Schultern, damit bräuchte ich natürlich keinen Guide oder ein Kamel oder gar beides. Dann verfällt er wieder in Lethargie, scheinbar sinkt er in sich zusammen, nur als ich ihm mitteile, dass wir später einen Tee trinken würden glimmt kurz Leben in seinen Augen auf.


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   Diese Dünenlandschaft würde man eher in der Sahara vermuten als in Indien. Der Sand türmt sich in unterschiedlichen Höhen auf, schätze es gibt Dünen, die sind bis zu 20 Meter hoch, die Oberflächen vom Wind scharf mit Wellenmustern gezeichnet. So stapfen wir über die Sanddünen und nach wenigen Minuten ist die Straße verschwunden und mit ihr diese Geräu-schkulisse der Zivilisation. Die Stille ist prägnant - nur der Klang der Welt ist zu hören - Wind und das Blätterrauschen der wenigen Büsche, die in der Regenzeit durch den gelben Sand ihren Weg an die Oberfläche finden. Umgeben von sich ändernden organischen Formen, erzeugt von Wind und Wetter, versucht das Auge visuelle Haltepunkte zu bekommen. Da das nahezu unmöglich ist, nehmen wir einen Baum, der einer afrikanischen Gelbfieberakazie recht ähnlich sieht - als Markierung für unseren Rückweg. Im Grunde wollen wir keine richtige Wüstenwanderung machen, nur die Faszination dieser Unwirklichkeit probieren. Nicht zu vergessen, dass es um 18 Uhr stockfinster ist und ich keinesfalls beabsichtige im Dunkeln auf einer indischen Straße unterwegs zu sein - nicht bei all den unbeleuchteten Verkehrsteilnehmern. Aller Krabbeltiere zum Trotz setzen wir uns auf eine Düne und geben uns ganz unserer Sprachlosigkeit hin. Von der Leere und der gleichzeitigen Vielfalt an organischen Formdetails geht eine unglaubliche Faszination aus, die sich eigentlich nur mit der buchstäblichen Unwirklichkeit und der le- bensverneinenden Atmosphäre der Landschaft heraus erklären lässt. Vor Jahren habe ich schon Mal auf einer Düne in der Thar Wüste genächtigt und das Schauspiel des Himmels ist von so großer Naturschönheit gewesen, dass es schwerfällt sich auszumalen, wie grausam dieses Fleckchen Erde im Gegenzug auch sein kann. Unsere Kommunikation ist eher wortlos, aber in Annis Augen sehe ich meine Faszination und gleichzeitige Abscheu gespiegelt, obwohl die unwirkliche Schönheit uns tief in der Seele berührt.


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   Vor Dunkelheit sind wir zurück in Jaisalmer. Begleitet von einer rotgefärbten tiefstehenden Sonne, deren Reflexion uns im Rückspiegel förmlich den Weg weist. Wir müssen das Moped abgeben, für den morgigen Tag steht ganz der kulturelle Stadtberg auf dem Programm und da wird kein Moped benötigt - leider. Also noch einmal über den Basar! Vor dem Stadttor von Jaisalmer halte ich an, drücke Anni die Kamera in die Hand - sie macht ein Gesicht: erstens ist der bereits erwähnte Beifahrersitz so unbequem, dass ihre Kehrseite den Zustand meines Kamelhinterns von 2010 angenommen hat und zweitens habe ich den Eindruck, dass sie unter einem romantischen Gang über den Basar etwas anderes versteht als ich. Auch das Argument, dass hier alle motorisiert auf dem Basar unterwegs sind, greift nicht so richtig - also gut, dann muss eben das Totschlagargument herhalten: ich kann nicht fahren und filmen gleichzeitig. Das leuchtet schließlich ein! Also los, Daumen an die Hupe, ersten Gang eingelegt und los. Der Platz hinter dem Stadttor ist ziemlich groß und natürlich in Anbetracht der kühler werdenden Nachmittagszeit völlig überfüllt mit den üblichen Verdächtigen: Tuktuks, Gemüsehändler nebst ihren rollenden Gemüseständen, Kühe, SUVs, Fußgänger - indischer und bleichgesichtriger Coleur, herumlungernden Männergruppen, Mönche, streuende Hunde und natürlich etliche grell bemalte Tata-LKWs. Das bringt mich zur alten indischen Tradition des pausenlosen Hupens. Wie dem geneigten Leser bereits versprochen, hier die Rubrik zum Hupen: Das Einfließen in den indischen Verkehrswahnsinn ist schon als unbeteiligter und damit auch gleichzeitig hilf- loser Statist eine lebensbedrohliche Grenzerfahrung, als aktiver Teilnehmer hingegen das Tor zur Hölle im vierten Bannkreis des Shiva. Keine Ahnung ob es den vierten Bannkreis der Shiva gibt, aber genauso fühlt es sich an, vergleichbar mit Dantes Inferno ohne Aussicht auf das läuternde Purgatorio.... Zunächst fahren alle auf einen zu, wie die Pfeilspitze eines rajastanischen Bogenschützen. Die westlich ankonditionierte Ordnung nach zwei Fahrspuren mit ordnungsgemäßer Mittellinie ist aufgehoben und es herrscht Chaos. Hier kommt die Hupe ins Spiel, eines der wichtigsten Erfindungen der Fahrzeugindustrie, zumindest für alle geografischen Flächen östlich von Wien. Benutzt man im bundesdeutschen Straßenverkehr die Hupe, kommt das einer moralischen Verfehlung gleich, für die man auch heute noch gelegentlich


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geteert und gefedert wird - je nach Region und Sitte unserer schönen leisen Heimat. In Indien jedoch ist sie unverzichtbarer Bestandteil eines jeden Fortbewegungsmittels. Manchmal glaube ich, dass die Evolution nicht mehr lange braucht, bis auch der indische Elefant als solcher mit der Hupe geboren wird - bis dahin tuts der Rüssel auf eindrucksvolle Weise auch. Da man sich eigentlich ununterbrochen im Ausweichmanöver befindet, kann das menschliche Gehirn gar nicht mehr zwischen einzelnen brenzligen Situationen unterscheiden - der indische Verkehr ist eine einzige brenzlige Situation! Also beginnt man beim Losfahren mit dem Einkuppeln in den ersten Gang auch mit dem Hupen und wenn man den Zündschlüssel zum Ausstellen des Motors herumdreht löst man den Daumen von der Hupvorrichtung. Dazwischen gibt es nichts! Während bei uns das Hupen mehr so als unfreundliches Hinweisen auf verkehrstechnische Verfeh- lungen rangiert, wird selbiges in Indien als höfliches „Hallo - hier ist noch jemand“ aufgenommen. Zumal der geneigte Leser bedenken sollte, dass Situationen, die bei uns bereits anwaltliches Einschreiten bedeuten - beispielsweise nicht gesetzte Blinker oder etwas zügiges Überholen auf einer leeren Landstraße - in Indien gar nicht als Verfehlung wahrgenommen werden, denn eigentlich existieren in in diesem Land keine  verkehrstechnischen Verfehlungen. Für das Bleichgesicht ein Paradies, denn im Straßenverkehr ist ALLES erlaubt - ohne Konsequenzen. Für diejenigen, die in Kürze einen Indientrip geplant haben: vergesst den Reiseführer, ein Videonachmittag mit „Ben Hur“ und den 7 Teilen von „The Fast and the Furious“ ist allemal die bessere Vorbereitung auf das Land.... darüber hinaus stehen die Tempelgeschichten zum Nachlesen alle im Netzt!


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 Vom weit geöffneten Stadttorplatz geht es jetzt in die engen Gassen des Basars. Kühe lungern wiederkäuenderweise auf dem Asphalt herum, Schlaglöcher in der Größe von durchschnittlichen Gullideckeln, jede Sekunde springt ein Kind in das Chaos, Händler diskutieren mit Touris halb auf der Fahrbahn, die Roller schießen rechts und links an uns vorbei, der überaus gefährliche Mann mit dem Handkarren mit überlanger Zuladung fädelt sich - einer schwarzen Mamba gleich - in den gegenläufigen Strom ein, bemüht den Rhythmus der wogenden Masse aufzunehmen, Tuktuks von hin-ten und vorne zwingen zu abrupten Bremsmanövern, die Gabelfederung ächzt und der permanenten Belastung  - es ist herrlich! Verschreckte Touristen stehen hilflos in der Fahrbahnmitte und versuchen verzweifelt die nächsten 90 cm zur anderen Seite der Gasse zu überleben - pah was für Amateure! Nach einigen Minuten habe ich die vornehme Zurückhaltung des Bleichgesichts in der Fremde vollends abgelegt und gebe mich ganz dem indischen Verkehrsrhythmus hin - das führt zur Akzeptanz der anderen Streitwagenpiloten - es geht erschreckend einfach. So durchfahren wir den alten Basar von Jaisalmer, ohne die Maschine zu beschädigen oder einen Teppichladen zu verwüsten, erstarrte Touristen überzubügeln oder gar in eine Affenhorde zu rauschen. Bin auf die Filmaufnahmen gespannt! Kurz vor Ende liegen natürlich drei Ochsen, mit recht eindrucksvollem Gehörn, in der Mitte der Gasse herum - umgeben von einem Haufen westlicher Bleichgesichtern in buntkarierten Kurzarmhemden und beigen dreiviertel Trekkingbuchsen von Jack Wolfskin. Lasse kurz den satten Sound der Enfield aufheulen und von offenen Mündern begleitet, rollt die Maschine mit gezogener Kupplung durch die barriereähnliche Anordnung der drei Ochsen inklusive der deutschen Reisegruppe.

   Der junge Mitarbeiter der Mopedvermietung lungert vor dem Laden herum, betrachtet uns mit großen Augen, als wir aus der Basargasse gerollt kommen und mit einem anerkennenden Grinsen nimmt er Schlüssel und Helme entgegen. Der geneigte Leser merke, vor der Abfahrt mit der geliehenden Maschine immer die Funktion von Hupe und Bremse zu testen - der Rest ist egal. Alles in allem hatten wir einen tollen Tag und unser Dank an Oberst Singh von der Indian Army, dass er uns die Maschine geliehen hat.


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