Tempel, Tempel & nochmals Tempel . . .
- Ingo
- 2. Juni
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juni
Depesche 06 - Bagan - 2016

Wir sind jetzt drei Tage hier und haben die unglaublichsten Dinge gesehen! Nach 1200 Fotos aller möglichen Tempelarten habe ich das Fotografieren aufgegeben ... - nein wirklich! Angeblich gibt es hier - oder besser formuliert gab es hier mal 13000 Tempel! Stattlich, jawohl - die burmesische Baubranche muss um 800 n. Chr. geblüht haben. Na ja, vielleicht gibt es unter den ehemals 13000 von der offiziellen Statistik veranschlagten Tempeln etliche kleineren Formats. So niedliche 40 cm mal 50 cm mal 60 cm - also mehr so ein Hausschrein. Spirituell wird hier gnadenlos alles mitgezählt, denn die Größe eines Schreins sagt hier bekanntlich nichts über seine spirituelle Tiefe, denn Buddhas Seele hat weit mehr Zimmer als ein Harem aus Tausend und eine Nacht ... Nein, in diesem Land wird

jeglicher Gegenstand als Pagode oder Stupa gezählt, sofern sich irgendeine buddhatechnische Verbindung -bspw. über Finger-, Hand oder Fußabdrücke, über Haare, Zehen- oder Fingernägel - herstellen lässt, egal ob 100 Meter hoch oder nur in der Größe eines Fingerhuts - Pagode bleibt Pagode! Size does matter - zumindest in diesem Land.
Aber ich greife wiedermal vor und ziemlich viele eingefleischte Autoren würden mich jetzt geringschätzig mit einer hochgezogenen Augenbraue mustern und vermutlich missbilligend den Kopf schütteln. Ich meine so Südostasien erprobte Typen wie Kipling, Greene oder Orvell.



Begleitet von irren Mückenschwärmen rumpelt in finsterer Nacht der Zug von Pyay nach Bagan. Die Zugfahrt stellt sich als eine der wenigen Fahrten meines Lebens heraus, wo mich das rumpelnde Schwanken nicht umgehend in Morpheus Arme treibt, sondern ich vor müder Verzweiflung kurz vor dem Axtmord bin. Wie gesagt, Size does matter! Die gedrungene Breitschultrigkeit meiner Wikingervorfahren wurden bei der Konstruktion der Sitzbänke in burmesischen Zügen einfach ignoriert. Das ist sicherlich nur die Retourkutsche der Briten wegen des miesen Verhaltens der Wikinger 793, als es in Lindisfarne ordentlich zur Sache ging und die braven Betbrüder ordentlich eins auf die Omme bekommen haben, wie Heinz Dieter Hüsch es immer zärtlich auszudrücken pflegte, wenn es bei Männer ohne Nerven ein zünftiges Fratzengeballer gab. Die Sitzbänke sind einfach nicht lang genug, als dass ich mich mit meinen langen 1,83 m darauf langmachen könnte. So ein Longhi tragender Burmese passt hervorragend auf diese Bank, ich nicht. Das handelsübliche Ehepaar dieses Kulturkreises kann hier entspannt nebeneinander sitzen, kein Wunder, wenn die Schulterbreite von Mann und Frau gemeinsam vermessen nur 64 cm bis 74 cm beträgt. Alle Versuche, mit unserem Gepäck durchgehende Flächen mit den Sitzbänken zu erzeugen scheitern, und die halbe Nacht starre ich aus rotgeränderten Augen in die Finsternis. Mein einziger Trost ist, dass ich vermutlich den grandiosesten Sonnenaufgang erleben werde, da wir in den frühen Morgenstunden bereits ein flaches Hochplateau durchfahren werden. Die milde Nachtluft, die durch die geöffneten Fenster und Türen die gestaute Hitze des Tages vertrieben hat, ist zwar erfrischend, kann aber meinen Frust ob der diskriminierenden Sitzgelegenheiten der burmesischen Eisenbahn gegenüber Großwüchsigen nicht besänftigen. Gegen 10:00 Uhr erwache ich völlig gerädert, die Sonne steht heiß und hoch am Himmel, als wir eine flache, sandige Ebene durchfahren auf der wir immer wieder große Dattelpalmenhaine durchqueren. Bagan ist nicht mehr weit, die Luft ist angenehm trocken und trotz des stetigen Ratterns der Waggons kann man das Rauschen der Palmenblätter im Wind hören.

Wenn man sich auf gerader Strecke etwas aus der Tür hängt, an der Lokomotive vorbei an das Ende des Schienenstranges in die Ferne schaut, kann man sehen, wie unendlich verzogen die Schienen sind und eher zwei wellenartigen Linien gleichen. Der Zug ist relativ leer und außer uns steigen nur noch 6 andere versteifte Bleichgesichter aus, die zu meiner großen Befriedigung ebenso rotgeränderte Augen haben und deren sparsamer Habitus ebenfalls auf Schlafmangel aus Platzgründen hindeutet. Ohne große Feilscherei nimmt uns ein Wagen auf seiner Ladefläche mit und wirft uns an unserem Hotel raus, das an einer der beiden „großen“ Straßen liegt, die die archäologische Zone von Bagan durchkreuzen.

Meiner Müdigkeit geschuldet vermute ich zunächst, dass der Taxifahrer uns im örtlichen Hospital abgesetzt hat und wir fälschlicherweise in den OP-Saal Nr. 2 geleitet wurden, aber es ist tatsächlich unser Hotelzimmer, welches sich da mit einer herzerfrischenden blass-türkisen OP-Atmosphäre präsentiert. Alles ist funkelnagelneu und auch die Neonröhren, deren einwandfreie Funktion der Page, der wenige Minuten vorher noch Deskmanager war, stolz präsentiert. Der geneigte Leser stelle sich jetzt eine dieser fotogenen Wasserleichen vor, die gerne immer in irgendwelchen düsteren Skandinavienkrimis auftauchen, giftgrüne Gesichtsfarbe und rotgeränderte Augen, so ungefähr sehen wir beide gerade aus und beschließen im Hinblick auf unsere Gesichtsfarbe, sofort ein Powernapping einzulegen. Wenn schon OP-Flair, dann setzen wir einen Farbquotenkontrast dagegen, werden sich die minimalistischen Architekten dieser ungemein gemütlichen Herberge gedacht haben, als sie das Interieur auswählten und zu den Edelstahlrahmen des Bettes, weich-flauschige dunkelgrüne Decken mit großgemusterten Blumenmustern aussuchten. Egal, ich will nur noch auf den fliegenden Teppich und da ist es mir herzlich egal, ob auf den Decken florale Dekorationen sind, die normalerweise nur in Nachtclubs von Bangkok, Saigon oder Manila Verwendung finden.

Die Betten sind super und da Farben für gewöhlich nicht den Schlaf beeinträchtigen, muss ich wie ein Baby geschnorchelt haben. Ausgeruht und bei einer Tasse Tee auf der “Terrasse” des Hotels beginnen wir den geballten Kulturtrip der kommenden 3 Tage zu planen. Das Wichtigste, was der geneigte Leser über Bagan wissen muss ist, dass es ziemlich weitläufig ist, dann ist es hier ziemlich platt, wie der Westfale so sacht, und es ist voller aufgetürmter Bruchziegel. Das ist es dann schon. Beim näheren Studium der Karte wird schnell klar, dass wir ein Transportmittel benötigen, um die schon größeren Distanzen zwischen den einzelnen Tempelbezirken zu überbrücken. Bei meinen Besuchen in Angkor konnte man immer so eine tolle Motorradrikscha mieten, die einen von A nach B kutschierte, aber Bagan ist - wenn auch nicht zwangsweise flächenmäßig - dann doch von der Ruinendichte her um ein Vielfaches größer. Zuerst haben wir über ein Fahrrad nachgedacht, dann über eine Kutsche (in Anbetracht des Zustandes der Pferde habe ich sofort Abstand genommen von diesem Gedanken), sind dann bei einem E-Roller chinesischer Bauart gelandet. Natürlich bin ich als Kind der westfälischen Fahrradmetropole dem Drahtesel als solchem verpflichtet, dennoch verwerfen wir die Idee umgehend. Während wird da so auf der Betonplatte vor unserem Hotel bei Tee und irgend einem klebrigen Gebäck herumlungern, passieren mehrere Fahrradpärchen aus beiden Richtungen unser Hotel. Die, die in Richtung Bagan fahren, radeln im wahrsten Sinne des Wortes beschwingt in Richtung der kulturellen Highlights. Aus der anderen Richtung kommen eher abgekämpfte und meist auch übellaunige Kultursuchende. Alle umwelt- und sporttechnisch ambitionierte Fahrradnutzer sind ausschließlich deutscher Abstammung, was eindeutig an der Schöffelzwillingsbekleidung oder der “urbanen 3/4-Outdoor-Hose” von Jack Wolfskin ersichtlich ist. Mal ehrlich, die Größe des Tempelbezirks ist kein Geheimnis - mehrere Quadratkilometer groß - es gibt lediglich zwei Asphaltstraßen quer durch den Bezirk, die allem als Hauptverkehrsader dienen - Bussen, Reisebussen, Dorfzufahrten, Landwirtschaft, Taxen, Museumsverwaltung, Angestellte, usw. - und, last but not least, liegen die Tempel weiträumig nur von Sandwegen verbunden in der Wildnis verteilt. Wem das zur Entscheidungsfindung noch nicht gereicht hat, der hätte beim Anblick der burmesischen Citymietfahrräder mit normaler Straßenbereifung sofort chronisches Muskelzucken in der Wade bekommen. Aber natürlich sei jedem Hardcore-Idealisten sein Weg gegönnt und toleranterweise begnügen wir uns mit dem kommentarlosen Lauschen der beziehungstechnischen Streitgesprächen erschöpfter Schöffelzwillinge am Nebentisch.



Unsere Mobilitätsentscheidung fällt auf Nummer 5. Für 6 US$ täglich leasen wir einen E-Roller chinesischer Bauart, inklusive der abendlichen Strombetankung und einem garantierten Zeitintervall von 5 Uhr morgens bis 11:00 Uhr abends. Dem geneigten Asienreisenden sei empfohlen, bei Leihfahrzeugen immer einen ausgiebigen Funktionstest zu machen, um spätere böse Überraschungen zu vermeiden. Also testen wir drei Modelle gleicher Bauart, indem wir mit “Vollgas” einmal die Straße rauf und runterfahren, abrupten Bremsen- und Leuchtencheck durchführen und die Funktionalität von Zündschloss und Blinkern sicherstellen. Eine kleine, aber feine asiatische Eigenschaft des täglichen Geschäftsgebaren ist ist, den Warenmangel zu verschleiern. Meistens werden alle Produkte auf Hochglanz poliert, auch die Defekten. So wird dem Kunden ein pralles Warenangebot suggeriert, daher ist der Funktionscheck immer mein Highlight. Zwei Modelle versagen komplett, Nummer 5 lebt, bremst und leuchtet einwandfrei, wird also angemietet. Die Kundenbetreuung der Vermietung ist ein bisschen ratlos, denn unseren etwas spießigen Hang zum technischen Perfektionismus kann da keiner so richtig nachvollziehen. Welche Beeinträchtigungen sind schon von ein paar mangelhaften Bremsen oder defekten Lampen zu erwarten.Wie kleinlich! Wir sind zwar keine Schöffelzwillinge, aber scheinbar sonst ziemlich Deutsch! Nr. 5 ist ein reinrassiger chinesischer Elektroroller, mit 12 Km/h Höchstgeschwindigkeit und dabei totenstill während der Fahrt, abgesehen von einem leisen kläglich-melancholischem Sing Sang vielleicht, dem Summen des Win-des an Stromkabeln nicht unähnlich.



In den frühen Nachmittagsstunden brausen wir ohne den zweiradtypischen Motorenlärm los, die Tempelstätten zu erkunden. Tatsächlich ist der Roller so leise, dass wir von einem milden Wind begleitet werden, dessen Kraft die Blätter der Palmen und Eukalyptushaine für uns geräuschvoll zum Rauschen bringt. Bagan ist schon ein skurriles Fleckchen Erde, denn überall einem Nadelkissen gleich, ragen Türmchen, Stupas oder fremdartige Zinnen aus Niederungen oder kleinen Waldgebieten hervor. Keinen Kilometer hinter unserem Hotel liegt an der Straße gleich ein Prachtexemplar in Backstein. Der Htilominlo-Tempel umgeben von starken Eukalyptusbäumen, erhebt sich majestätisch in den Himmel. Als ehemaliges Kloster erhebt er sich auf vier Bodenplatten und hat im Inneren zwei Kammern mit Buddhanischen. Die Böden und Teile der inneren Kammern sind noch mit farbigen Fliesen ausgelegt, doch in Anbetracht der Musterung, die von schlicht bis Prilblume reicht, bin ich mir sicher, dass hier die ein oder andere Restpostenfliese aus dem örtlichen Hornbach verbaut wurde. Vom ersten Dachbalkon aus hat man einen grandiosen Blick über die Ebene, die scheinbar bis zum Horizont nur aus Tempeln besteht. Alles in allem ist der Tempel sehr gut erhalten und selbst die kleinsten Turmfialen - hier heißen die Spitzen der Türmchen Hti -, gefertigt aus glasierten Brandziegeln, sind noch außergewöhnlich gut in Schuss. Die Luft in den dunklen Kammern ist wider Erwarten stickig und heiß, sodass der touristische Spießrutenlauf durch den Innenhof mit seinen Souvenirständen angenehm ist. Anders, als es in Indien der Fall ist, wird man als Tourist zwar schon angesprochen, wenn es um den losen Dollar geht, da die Tempel von Bagan aber noch aktive buddhistische Gebetszentren sind, hält sich das Souvenirgeschacher ziemlich im Rahmen. Die Stimmung zur goldenen Stunde - also so gegen 1630 Uhr bis 1730 Uhr - ist sehr gelassen. Die Händler verkaufen gekühlte Kokosnüsse, Bilder und allerlei anderes Zeug. Sehr schön sind aber die aus Messing gefertigten Windspiele, deren sanfter, heller Klang mit dem Wind zusammen eine ruhige, ja schon fast meditative Stimmung erzeugt.



Zum Sonnenuntergang, der wegen der Regenzeit natürlich eher schmal ausfällt, finden wir uns rechtzeitig auf dem weißen Pyathatgyi Tempel ein - mit unendlich vielen anderen Touristen. In der Regenzeit gibt es in Bagan kaum Touristen - gemessen an der Saison, die von Mitte November bis Mitte Februar geht. Dann bekommt man in Bagan nichts mehr, denn es herrscht reisetechnischer Krieg: Überbuchte Hotels, überbuchte Restaurants, überlaufende Tempelanlagen, überfüllte Reisebusse voller lauter Chinesen, usw. Auch wenn zum Sonnenuntergang sich etwa 200 Touristen, unter anderem natürlich auch wir, auf dem Pyathatgyi Tempel einfinden, ist das für die hiesigen Verhältnisse nicht viel. Denn verteilt auf die ganze archäologische Zone von Bagan ist dieses zahlenmäßige Touristenaufkommen in der Monsoonzeit nahezu gleich Null. Natürlich ist die Stimmung hier eher wie in Disneyland: Buchverkäufer (jedes irgendwann mal über Burma publizierte Werk gibt es in allen europäischen Sprachen als Raubkopie...), Tuchverkäufer, Kunstdruckverkäufer, Coke Verkäufer und natürlich Edelsteinverkäufer (der „natürlich total echte“ Saphir kostet nur 350 US$), gepaart mit lauter Musik der Eisverkäufer, der natürlich mit dem asiatischen Einheitsdreirad angereist ist, Mönche, die buddhistische Gesänge intonieren und burmesischem Hip Hop... Also, alles in allem eine gute asiatische Mischung zum Sonnenuntergang, beleuchtet von Neon- und LED-Sparbirnen. Man kann wirklich nicht meckern, sie tun was für die Atmosphäre! Mit dem Einsetzen der Dunkelheit liefern wir Nr. 5 wieder bei seinem Herrchen ab, auf das er getankt werde und uns zum frühen Morgengrauen wieder geräuschlos zu Diensten ist. Im Zuge eines raffinierten Planes zur Steigerung des Profis, liegt die Fahrzeugvermietung gegenüber von unserem Hotel, sodass wir nur noch über die Straße müssen. Das Überqueren von Straßen ist in Asien ganz leicht, auch im härtesten Verkehr. Nung, eine meiner Studentinnen an der Universität von Hanoi, weih-te mich seinerzeit in das Geheimnis der Überlebens im asiatischen Straßenverkehr ein: “Immer beherzt losgehen und unter keinen Umständen stehen bleiben!” Bei Ta-geslicht kein Problem, bei Nacht kein Problem - nicht mit dem Geknatter des asiatischen Einheitsmotors. Aber mit unbeleuchteten Elektrorollern kann so eine Straße bei totaler Finsternis schon mal zu einem lebensgefährlichen Katastrophenszenario werden. Der geneigte Leser fragt sich jetzt bestimmt .... “und die Straßenbeleuchtung?”.... Welche Straßenbeleuchtung? Es gibt Dinge, denen schenkt man in Asien einfach keine Beachtung, da bspw. für den reibungslosen Ablauf des Verkehrs Licht als notwendiges Novum angesehen wird. Wir schaffen die 6 Meter (!) breite Straße lebendig zu überqueren, da nach Einbruch der Nacht alle Bediensteten der Archäologischen Zone heim fahren - mit einem geräuschlosen Elektroroller! Welcher Verkehrsplaner hier noch mal sagt, E-Mobilität wäre die Lösung aller Verkehrsprobleme, dem empfehle ich eine Straßenüberquerung bei Nacht in Bagan!
