Rote Bärte stehen hoch im Kurs . . .
- Ingo
- 15. Juni
- 7 Min. Lesezeit
Depesche 09 - Jaipur - 2018

„Warum tut Ihr Euch das an???“ steht in etlichen Emails, die ich bekomme oder zumindest zwischen den Zeilen taucht diese Frage indirekt auf. Tja, dass ist schwer zu beantworten. Der Europäer sieht sofort den Müll, die katastrophale Hygiene, die Ineffizienz und Ungerechtigkeiten des Systems, die Lethargie und die Abzocke. Natürlich ist das latent da, nur muss man einfach versuchen, unseren europäischen Blick auf diese Dinge auszuschalten und die damit verbundene Wertung zu vermeiden. Ich mag es, mit verschmitztem Blick auf diesen mega Visukill für alle Sinne zu beobachten, genieße oft meine Verwunderung, meine kulturelle Naivität und die täglichen Missverständnisse, die überwiegend zu einem Lächeln auf allen Seiten führen. Nur das Moralisieren möchte ich vermeiden und versuche mir lieber vorzustellen, wie ein Inder wohl bspw unsere Verkehrsregeln aufnimmt. Warum sollte man ja auch nicht nicht auf der Gegenfahrbahn fahren?

Dann sieht man Farben, alles was die Palette zu bieten hat, dann sieht man das Lächeln der Menschen, die meist fast nichts von dem haben, was unser Leben im Alltag lebenswert macht, dann sieht man unendlich viel Schönes, Bezauberndes und sehr Eindrucksvolles. Wie auf allen Reisen entdeckt man eigene Schwächen und welchen Vorteil es haben kann, anders mit den Dingen des Lebens umzugehen. Wir haben in Agra einen Tourguide getroffen, der eine internationale Schülergruppe unter dem Motto „360° Plus - Learning by Travelling“ begleitet. Ein Unternehmer aus dem Silikon Valley finanziert dieses Projekt und Schüler aus den eher sozial schwächeren Schichten und aller Nationalitäten werden in einer Gruppe von ca. 25 Schülern ausgewählt, unter dem Motto „Jeder ist eine Minderheit“. Da waren Südafrikaner, Chinesen, Costa Ricaner und ich weiß nicht wer noch alles. Das Programm war eine Mischung aus Land und Leute kennenlernen, Sightseeing sowie Aktivurlaub und alles zum Abbau von moralischen und kulturellen Werturteilen und Schranken.


Wer in Indien aus dem Flugzeug steigt ist sofort im prallen Leben, was so anders ist, dass man es meist gar nicht fassen kann. Welche Sorgen, Probleme oder unerledigte Dinge einen auch beschäftigen mögen, treten sofort in den Hintergrund, denn Indien verlangt volle Aufmerksamkeit und Konzentration. An jeder Ecke tobt das Fremde und der eigene Geist erzwingt die unmittelbare Aufnahme dieser Andersartigkeit. Und das, mit einem Höllentempo, denn 3m weiter lauert der nächste visuelle Angriff auf das Großhirn des Reisenden. Nach vier Wochen wird der Schädel mit Eindrücken so überfüllt sein, dass ein rückblickendes Verarbeiten unumgänglich ist. Wie sagte Kipling seinerzeit mal so treffend, „Ost ist Ost und West ist West - sie werden sich niemals treffen!“ Wie wahr.
Da wir zu zweit sind, verarbeiten wir in permanenten Gesprächen unsere individuelle Eindrücke. Wer seinen prozess- und optimierungsgesteuerten Gedankenwelten nicht entfliehen kann, dem kann ich nicht helfen, außer ihm zu raten, Europa nicht zu verlassen. Ein sehr pragmatisches Beispiel ist unsere Lebensmittelvergiftung. Alle äußerten Bedauern, Mitleid (Unser Dank an dieser Stelle dafür!) und auch Ekel, außer Richard. Richard merkte an, dass es viele Menschen gibt, die eine Menge Geld für eine Magenreinigung zahlen. So ist es richtig, das ist der indische Weg! Danke Richard, ich mag deinen eiskalten Pragmatismus!

Um 8 Uhr sitzen wir wieder in einem Tuktuk und es gilt die ältere und jüngere Geschichte Jaipurs zu erforschen und unser erster Ritt führt uns zum Amber Fort, eine alte Garnisonsfestung, die etwa 10 km außerhalb von Jaipur liegt.
Am Abend zuvor stießen wir auf Keif, einen jungen Tuktukfahrer, der uns für den kommenden Tag ein gar himmlisches Vergnügen versprach, was wir gerne annehmen wollten. So knattert er mit uns durch enge Gassen, kennt jeden Schleichweg und hängt in Null Komma nichts alle klimatisierten Reisebusse ab. In den engen Gassen begegnet uns ein Arbeitselefant, den alle ehrfürchtig vorbeilassen. Es scheint eine alte Elidame zu sein, die gemächlich durch die gewundenen Gassen mit ihren Rosa-, na ja ochsenblutfarbenen Fassaden trottet. Ihre ledrige Haut ist recht hell, sodass sie zu lächeln scheint. Für uns erzeugen diese Begegnungen immer wieder ein Prickeln auf der Haut, denn wir kenne diese Tiere einfach nur aus dem Zoo. Aber an roten Ampeln, die vermehrt in Jaipur die zügige Verkehrsmobilitäts hemmen, wartet der Mahout geduldig mit seiner Eli- dame, die interessiert mit dem Rüssel alle umherstehenden Fahrzeuge beschnuppert. Unser heutiger Morgen stand ganz im Zeichen der Elefanten.

Das Amber Fort, sandgelb getüncht, liegt auf einem Höhenzug über dem Amber Village. In leichten Serpentinen führt eine gepflasterte Straße den Berg hinauf zum Haupttor. Dann gibt es noch Treppenstufen, für die, die den langen Anstieg abkürzen wollen. Keif wird uns in 3 Stunden wieder einsammeln und so begeben wir uns auf den Weg zur Treppe. Erwähnen muss ich nicht, dass wir vom Parkplatz bis zum Ticketkauf schon eine Horde fliegender Händler passieren mussten, den fliegenden Basar sozusagen, was einem Spießrutenlauf gleichkommt. Nein Postkarten vom Taj Mahal sind jetzt noch nicht notwendig, das war dem Basarpersonal nicht so einfach beizubringen, denn besser jetzt die Taj Mahal Postkarte bevor es keine mehr gibt. Zugegeben, diesem Argument darf man sich nicht in Gänze verschließen. Das Amber Fort ist eine große, sehr imposante Anlage, deren Ausmaß erahnen lässt, wieviele Soldaten der Maharadscha von Jaipur im 17. -18. Jahrundert hier unter Waffen hatte. Im Hinblick auf die historische Dichte von Putschen, Brudermord oder Krieg mit den Nachbarn würde ich die Truppen auch lieber außerhalb der Stadt verwahren. Es ist sehr gepflegt, aber eben nur ein schnödes Militärlager und abgesehen von einem sehr schmucken Bereich in dem der Oberbefehlshaber zu schlafen pflegte, ist es recht nüchtern. Aber! Von 9 Uhr - 12 Uhr kann man auf einem Elefanten den langen Anstieg zur Festung reiten. Irgendwo habe ich gelesen, dass diese tägliche Form von Bergsteigen für die Elefanten alles andere als gesund ist und mich heute wie vor 10 Jahren dagegen entschieden. Trotzdem kann man sich diesem Reiz dieser Situation nur sehr schwer entziehen. Vor der Kulisse dieser indischen Festung stiefeln bis zu 140 Elefanten (Die Sättel sind numme- riert), mit buntbemalten

Köpfen und beturbanten Mahouts den Berg rauf und runter. Besonders, wenn sie durch das große, schlüssellochförmige Tor schreiten, ist das Exotik pur. Getoppt wird dieser Anblick nur noch, wenn zwei Elefanten sich bleichzeitig mit ihren dicken Pötern durch das Tor schieben. Um die Elefanten nicht zu überanstrengen, geht das nur von 9-12Uhr. Ob die Elefanten gut aussehen vermag ich nicht zu beurteilen. Auffällig ist jedoch, dass die Mahouts die Tiere bergab sehr antreiben, um möglichst viele Touristen abfertigen zu können. Wie gesagt, es ist schwer sich diesem atmosphärisch so stimmigen Bild zu entziehen. Um 11 Uhr ist es bereits 35° Celsius, ständig zunehmend und wir tuckern nun Richtung City Palace. In der brütenden Hitze ist dieser schöne Stadtpalast relativ wenig frequentiert. Der Maharadscha von Jaipur lebt immer noch in diesen Gebäude, allerdings von den gut 300 Zimmern bewohnt er nur noch 80 Zimmer. Es gibt natürlich einen Innenhof, der für jede Himmelsrichtung ein Tor hat. Die Tore sind reichhaltig verziert, von einem Vordach beschirmt und die Türen selbst sind derart verziert, dass man gar nicht weiß, wo man anfangen soll, dem Verlauf des Musters zu folgen. Besonders ist das Pfauentor, in


dessen Torbogen die Köpfe mehrerer Pfauen dreidimensional herausgearbeitet sind, während die restliche Putzfläche mit einem, sich symmetrisch fortsetzendem, Pfauenfedermuster bemalt sind. Nahezu allein sitzen wir hier bestimmt eine Stunde im Schatten und be-staunen die Handwerkskunst vergangener Tage. Für den Nachmittag steht der Palast der Winde auf dem Programm. Im Innern des Tempels lebten vor Jahren etliche Gibbon-Affen, die das Flair des Palastinneren mit ausmachten. Der eigentliche Palast ist leer und deshalb etwas eintönig, aber die Affen machten den ganzen Laden ziemlich lebendig. Leider gibt es keinen einzigen Gibbon mehr im Palast der Winde, was ich als sehr schade empfinde. Dennoch ist das Rauschen des Windes ein sehr schönes Schauspiel, was nur zu erleben war, weil wir nahezu auch hier allein waren. In Indien lohnt es sich immer erst gegen Nachmittag zu einem Denkmal, Palast oder anderen touristischen Highlight zu gehen, weil dann die großen Touristenströme längst weg sind. So schön dieses Gebäude auch ist, darin le-ben hätte ich nicht gewollt. Die Gänge sind eng, die Zimmer klein und nur ein paar kleine Fenster, um das wirkliche Leben auf der Straße zu beobachten, ist sicher kein Spaß. Und sind wir mal ehrlich, nur Frauen unter einem Dach, das gibt doch eh nur Mord und Todschlag, oder?

Tja eine wirklich interessante Begebenheit wäre hier erwähnenswert: Die Inder stehen total auf meinen roten Vollbart! Überall schallt es herüber „I like your beart!“ Jawohl, dass musste in aller Deutlichkeit so gesagt werden! Anscheinend hatte der Sohn von Rajeef Gandhi seinen Bart auch rot gefärbt und mir wird mehrfach eine Ähnlichkeit angedichtet. Viele indische Männer versuchen sich den Bart rot zu färben, einfach aus dem Drang heraus, anders zu sein. Hier haben alle schwarze Haare und Bärte, das ist Fakt! Ähnlich wie es bei uns im DM-Markt Tonnen von Haarfärbemittel gibt, gibt es das hier auch, vielleicht nicht direkt in einem DM-Markt, aber in der Gasse der Kosmetiker gibt es das alles auch! So einen indischen Beautysalon muss man sich wie einen kleinen Holzverschlag vorstellen, oft mit doppelflügeligen türkisen Holztüren. Im Innern gibt es vom Fußboden bis zur Decken alles in einer Verpackungsgröße, die bei uns als Pröbchen neben der Apotheken Umschau über den Handverkauf gehen würde. Indien ist das Land der Pröbchendimension, bspw gibt es Popcorntütengrößen für exorbitante 5 Rupien, die in 7,5 Sekunden leergegessen ist. Aber pfiffiges Marketing wie ich finde, denn das Warensortiment umfasst immer ca. 5000 Packungen! Das sollte der DM-Markt erst mal nachmachen. Nun beginnen Männer jeden Alters, sich Haar und Bärte zu färben. Das Ergebnis ist ziemlich lustig. Bei schwarzem Haar wird der Farbton Mahagonibraun und bei grauen Haaren wird es leuchtend orange. Mut haben sie! Folgendes Szenario: Man sitzt nichtsahnend im Tuktuk im Stau und nebenan hält eine uralte Honda Hero darauf ein Greis, dessen Bart zur Hälfte leuchtend orange ist. Besser ist eigentlich nur noch, wenn der Greis einen übergroßen Helm trägt und man sich nicht sicher sein kann, ob der Bart am Kinn oder am Helm hängt. Übrigens haben wir auch das Geheimnis gelüftet, warum die Inder ihre Mopedhelme immer eine Nummer zu groß kaufen: Damit man das Handy während der Fahrt zwischen Ohr und Helmwand klemmen kann. Da sage mal noch einer, hier gäbe es keine Innovationen.

