Mit dem Toy-Train den Berg rauf . . .
- Ingo
- 10. Juni
- 7 Min. Lesezeit
Depesche 03 - Nach Shimla - 2018

Nach vier Tagen in nahezu totaler - räumlicher und geisitger - Finsternis, streben wir zurück ins Licht und ins Leben. Die Tochter unseres Hoteliers klopft mehrfach täglich, um unseren Gesundheitszustand zu prüfen. Vielleicht ist es aber auch schlecht fürs Geschäft, das zwei abgenippelte Touristen des Nachts aus der Hintertür zu den Ghats gebracht werden müssten.... An den Ghats werden hier die Toten verbrannt und deren Asche mit dem Wind in den Fluss gestreut. Für gläubige Hindus müsste es natürlich der Ganges sein, wir wären vermutlich als Pseudohindus 2. Klasse im nahegelegenen Abwasserkanal verschwunden, wie alles andere in Delhi übrigens auch. Aber mein Körper und Geist weigern sich standhaft zu Shiva zu transzendieren und trotz meines zitternden Schwures, nie wieder etwas zu essen, nehmen wir die Einladung unseres Hoteliers zum Abendessen an. Geduscht mit weichen Knien bekommen wir ein ayurvedisches Gericht, bestehend aus zusammengekochten Reis und Linsen, was ein bißchen wie ordinäres Kartoffelpü schmeckt. Der Hotelier ist unglaublich gut in der Weltpolitik unterwegs, Trump, Strafzölle, Europa, Türkei, Junker, europäische Nachkriegspolitik, Brexit.... er ist im Bilde. Mit verschmitztem Augenzwinkern nimmt er die indische Politik und das indische Gesellschaftssystem auseinander.... mit Kant’scher Vernunft, für den er Sympathien hegt. Das Essen bleibt drin und außer den schier nie endenden Schweißausbrüchen schaffen wir den Abend. Er überredet Anni sogar zu einem halben Glas Kingfisher (Bier). Die Leute sind unglaublich freundlich und richtig putzig. Morgens wird immer leise geklopft (vermute die erste Probe, ob wir noch leben) da steht dann eine kleine Inderin, die bei meinem Anblick besorgt drein schaut, was mich wiederum besorgt macht und hält zwei Kokosnüsse hoch und mit hoher Stimme (klingt so wie „Wolln Rose kaufen“) flüstert sie, „Coconut, very healthy“. Das bringt uns über den Tag, ansonsten Dämmerzustand und ständig weiter werdende Hosen. Sie besorgen uns auch die Bahntickets nach Shimla, denn so langsam müssen wir uns mal wieder auf die Beine bringen. Ich glaube, ich wäre selber kaum in der Lage gewesen, den Ritt zum Bahnhof erneut zu machen.

So stehen wir um 7 Uhr morgens, an Tag 7 der Indienreise, mit wackeligen Beinen auf dem Bahnsteig Delhi Nord und harren auf den Zug, der uns nach Kolka am Fuss des Himalaya bringen soll. Es ist drückend und mir läuft das Wasser nur so den Rücken entlang. Die Fahrt durch die Suburbs von Delhi sind ein Grauen.
Wie sieht das Grauen aus? Ich denke, jeder Mensch hat eine eigene, ganz individuelle Vorstellung vom Grauen. Das kam meiner schon ziemlich nahe. An den Bahngleisen entlang zog sich eine einzige Mondlandschaft aus Müll. Hunderte von Menschen der niedrigsten Kaste leben in dieser gespenstisch le- bensverneinenden Kulisse des Konsums, des Systemversagens, des Ausgestoßenseins, eine öffentliche Parallelwelt, in der Menschen ihr Dasein fristen. Mit Beginn der Dämmerung scheinen nahezu alle Besitzer von „Fahrradberufen“, Rickschafahrer und Lastenfahrradfahrer ihr Fahrrad auf diese Müllhalde zu schieben und dort die Nacht zu verbringen. Die Luft ist unerträglich, über die Hygiene will ich gar nicht nachden- ken und das öffentliche Verrichten der Notdurft an der Bahnlinie rundet die Szenerie ab. Der Zug schlängelt sich gut eine halbe Stunde an dieser Endzeitstimmung vorbei und wir erreichen die Slums von Delhi. Dunkel regt sich in einem längst vergessenen Winkel meiner Psyche eine wage Erinnerung an meinen Erdkundeunterricht, der das indische Kastensystem behandelte. Der „indische Slum“ war als der größte anzunehmende Zustand menschlicher Lebensunwürdigkeit proklamiert worden. Im Vergleich zu der Mondlandschaft, die wir gerade durchfahren hatten, schien der Slum geradezu paradiesisch zu sein, alles eine Frage des Blickwinkels.

Gegen Mittag erreichen wir über Chandighar ein verregnetes Kolka, den größten Teil der Strecke habe ich verrenkt geschlafen. Der Zug ist noch in Bewegung und rollt langsam in den Kopfbahnhof ein, da springen schon Gepäckträger, Taxifahrer etc. in die Waggons und fallen geschäftsmäßig über die touristische Ahnungslosigkeit her. Immer noch angeschlagen, mein Kreislauf fährt nur im ununterbrochenen heiß-kalt-Modus, scheine ich eine eher negative Aura zu habe, sodass die Meute uns in Ruhe lässt. Auf der anderen Seite wartet schon der Toy-Train, dessen Spielzeuglok schon ordentlich den Diesel im Standgas laufen hat.
Wer viktorianische Waggons erwartet hat, wird enttäuscht. Dieser Zug besteht aus einigen 50ger Jahre-anmutenden Wagen, die auch im Legoland fahren könnten. Etwas heruntergekommen, schmuddelig, jeweils mit einer französischen Toilette in jedem Abteil. Ein Waggon ist sozusagen ein Abteil. Snobs, die wir sind, haben wir natürlich erster Klasse gebucht. Zu unserer Ehrenrettung muss ich jedoch anfügen, dass diese Waggons Panoramafenster haben. Der Aufschlag zur Holzklasse war ca 90 Rupien (1,10 Euro€), sodass ich nicht gezögert habe!!! Snobs hin oder her..... für ein gutes Hochlandfoto bin ich bereit 1,10 Euro Aufschlag zu zahlen. Im Inneren unseres AC (Aircondition) Wagens, (gibt es natürlich keine AC, aber der Vornehmheit halber, werden sie von der indischen Bahn als AC be- zeichnet!) herrscht graues Resopal der 50ger vor.


Enge Sitze mit dunkelroten Stoff bezogen, sind in 2er und 1er Formation angeordnet. Das Gepäcknetz ist so schmal, dass es vermutlich für leichte Sherparucksäcke der 40er Jahre gemacht zu sein schien.
Mit königlicher Pünktlichkeit setzte sich kleine Diesellok ziemlich schnaufend in Gang und mit einem Ruck beginnen die kleinen Waggons zu schwanken, denn die Spurbreite der Gleise ist nur 60cm. Langsam beginnt der Aufstieg, zunächst durch ziemlich vermüllte Außenbezirke von Kolka - durch die Hintertür, sozusagen. Der Himalaya lässt sich bisher nur erahnen, da die Wolken ziemlich tief hängen und es immer noch regnet. Wir passieren eine Firma von Henkel, was schon ziemlich weit im Voraus an dem Geruch des Lösemittels zu merken ist, Chiphersteller oder einfache Stadtviertel, die voller Trubel und Leben sind.



Nach gut einer Stunde des Schwankens verschwinden die letzten Behausungen und wir juckeln durch steile grüne Täler, deren Hänge zum Anbau von Kartoffeln, Tomaten und Zuccinis in Terrassenform kultiviert wurden. Nach und nach verschwindet der Regen, die drückende Hitze lässt nach und kühler Wind kommt auf. Mehrfach windet sich die Straße von Kolka nach Shimla entlang der Bahnstrecke. Immer wieder verursachen Baustellen massive Staus, deren Zeitverlust die Fahrer anschließend zu sehr waghalsigen Manövern verführen.

Zwei Stunden nach Abfahrt bricht die Sonne durch die Wolken und gibt spärliche Blicke auf die Höhenzüge frei. Der Zug braucht von Kolka nach Shimla ca. 5,5 Std., passiert dabei 108 Tunnel, 24 Aqäduktbrücken (unterschiedlicher Höhen) und 18 Bahnhöfe, die definitiv im Legoland abgekupfert wurden. Da die Bahnlinie 1903 fertiggestellt bis heute nur eingleisig ist, muss der entgegenkommende Zug immer an einem Bahnhof warten, damit beide Züge aneinander vorbei kommen. Wir passieren traumhafte dunkelgrüne Berghänge und malerische kleine blauweiße Bahnhöfe, deren Bauweise mich schon sehr an den Nepalistil des südlich Himalaya erinnert. In die blauen Dachfirste sind Muster gesägt, die hölzernen Wandflächen in weiß gehalten und die Türen sind so verziert, dass man sie abschrauben und einpacken möchte. Aber wir wären ja nicht in Indien, wenn es da nicht eine Gegenseite gäbe.

In keinem Waggon gibt es einen Mülleimer … richtig, der geneigte indische Reisende wirft alles aus dem Zugfenster: Colaflaschen, leere Chipstüten, einfach alles.... genau, Unverständnis, Hilflosigkeit unsererseits. Darüber hinaus werden wir von jungen indischen Schnöseln richtiggehend belächelt, dass wir an jedem Bahnhof raus sind, um unseren Abfall in eine dafür vorgesehene Tonne zu werfen.
An manchen Stellen der Strecke haben die britischen Ingenieure ganze Arbeit geleistet. Wie bei einer Minitrixeisenbahn haben sie Gleisschleifen an ein und demselben Berghang gebaut, sodass der Zug seine Gleise eine „Etage“ höher wieder kreuzt. Nach gut 6 Stunden, hat der Zug sich auf 2100 m nn hochgekämpft und erreicht Shimlas Bahnhof.


Shimla ist eine sogenannte Hill Station, ein ehemaliges britisches Sommerverwaltungszentrum. In den schwülen Sommermonaten verlegten die Briten ihre Verwaltung nach Shimla oder auf der östlichen Seite des Kontinents nach Darjeeling. Es ist angenehm kühl, leicht diesig und nachdem ich mich aus meinem Sitz entfaltet habe, machen wir uns auf, dem Träger-, Taxen- und Rikschachaos zu begegnen. Ich bin total platt, die Woche faktisch ohne Nahrung, lässt meinen Kreislauf wohl nur stotternd wieder in Gang bringen. Eigentlich erstaunlich, dass ich auf allen meinen Reisen noch nie etwas derartiges erlebt habe. Ich sags ja, wir hätten an einer Garküche essen sollen und nicht in einem Restaurant.....
Wie die Heuschrecken fallen sie über uns her, engstes Gedränge, lautes Rufen, jeder will ein Stück vom Toristenkuchen, denn schließlich kommen nur 2 Toy Train täglich den Berg rauf gedieselt. Meine sprichwörtliche Reisegeduld existiert gerade nicht, mir ist warm und kalt und die unglaubliche Distanzlosigkeit der Menschen lässt mich laut werden. Überteuerte Preise und alle wollen was verkaufen..., normalerweise mag ich diese Situation, weil sie für unser Lebensgefühl so sku- riel ist, dass es schon wieder gut ist. Wir suchen ein Hotel und gehen zu Fuß. Das wäre ja auch gelacht, wir gehen zu Fuß! Schließlich bin ich schon mit lädierten Füßen nach Santiago de Compostela gelatscht. Was für ein irrwitziger Plan, angeschlagen im Himalaya, immer bergauf, ich meine steil bergauf, zum Hotel laufen zu wollen. Aber es ist eine Frage der Ehre ... aufgeben gibts nicht. Sämtliche Augenpaare des örtlichen Tuktukverbandes folgen uns und lauern auf ein Zeichen der Schwäche meinerseits. Mein T-Shirt und mein Fließpulli sind bereits nassgeschwitzt, nur meine Regenjacke verhindert, dass die Tuktukmeute meine Qual sehen kann. 30 Minuten kämpfe ich mich den Berg rauf bis ich ei- nen rumlungernden Sherpa - weit genug entfernt vom Bahnhof - anspreche und er die letzten 15 Minuten das steilste Stück meine Tasche trägt.

Das Hotel Dreamland liegt im oberen Bereich von Shimla auf gut 2250 m nn. Während ich keuchend in der Lobby sitzenbleibe, besichtigt Anni mögliche Zimmer. Schmunzelnd kommt sie zurück. Das erste Zimmer, das ihr gezeigt wurde, war total verwüstet. Auf ihre vorsichtige Nachfrage, was da denn wohl passiert sei, kam lakonisch nur „Monkeys“ zurück. Sprichwörtlich war eine Affenbande durch das Zimmer gezogen, hatte nicht nur Unordnung verursacht, sondern auch noch auf die Türschwelle geschissen! Das musste mal klar so gesagt werden! Da hat wohl das house keeping team nach dem Herrichten des Zimmers vergessen abzu- schließen. Die Affen saßen übrigens immer feixend auf den Gittern der hausumlaufenden Etagenbalkone. Wir nehmen das grüne Zimmer..., nein Moment, das gelbe, ne das blaue, oder nein jetzt, jetzt hab ich’s - das orangene Zimmer. Die Gestaltung des Zimmers kommt einer farblichen Zwangseinweisung in die Psychiatrie gleich, aber vielleicht mildert der ein oder andere Sherpa das mit jeder Menge Ganja, was bestimmt gleiche Farbspiele auf die Rinde seines Kleinhirns zaubern wird.
Als tiefrotes Licht durch das Fenster fällt, treten wir auf den Balkon und uns bietet sich ein unglaubliches Naturschauspiel.


Wind reißt die Wolkendecke auf und die untergehende Sonne beleuchtet die Höhenzüge. Wolken fließen im wahrsten Sinne des Wortes über Bergspitzen und unter uns verschwindet Shimla in den Wolken. Der Berghang, an dem unser Hotel liegt, befindet sich oberhalb und bis zum Sonnenuntergang bietet sich uns ein spektakuläres Schauspiel über den Wolken. Wunder über Wunder des Orients!


