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Jodhpur ist gemächlich . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • 16. Juni
  • 6 Min. Lesezeit

Depesche 16 - Jodhpur - 2018


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Leise gedämpfte Stimmen und das unglaublich wohlige Zischen einer chromeingefassten Siebträgermaschine untermalen die Stille in der Espressobar von Jodhpur. Ja - Espressobar in Jodhpur, der geneigte Leser hat richtig gehört... eine Espressobar names Sheesh Mahal! Mit einer richtigen italienischen Siebträgermaschine! Jawohl, Siebträgermaschine .... kein schnöder Mengenbrüher, wie die deutsche Gastronomiefachwelt die Kantinenkaffee- maschine zu nennen pflegt. Siebträger!

   Ein länglicher Raum, dessen Wände einem alten Maharadschapalast entsprungen sein könnten, reichlich verziert mit orientalischen Bogenfriesen aus Stuck, mondänen Glastischen, tiefe diwanähnliche Sitzmöbel und Magazine, die das Herz des transglobalen Jetters erfreuen. Die indische Ausgabe der Vogue - Edelsaris sind angesagt, stellen wir fest, die Delhi-Cosmopolitan, Jodhpur-Polo und natürlich die Financial Times, Ausgabe India, darf nicht fehlen. Die Ausgaben sind alle- samt alt, aber was solls - hip ist hip. Und schließlich, wer kann schon wirklich den Überblick über die internationale Modewelt behalten, wenn schon H&M bis 16 Kollektionen pro Jahr herausgibt. Darüber hinaus gilt in Indien ohnehin das modetechnische Motto „Sari bleibt Sari“. Der Szene-Meute ist´s egal, man liest die Vogue. Da ohnehin nur Bilder drin sind, ist das Alter der Ausgabe sowieso egal.


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   Eine lange Fensterfront, hermetisch geschlossen, verhindert sie das Eindringen der unglaublich drückenden Hitze, die Aircondition läuft mit beruhigendem Summen auf vollen Touren. Von der ersten Etage hat man einen guten Überblick über eine der Zufahrtstraßen zum Sardar-Market. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite läuft die heimische Chapatiproduktion auf Hochtouren. In der Stille der Lokalität lässt sich voller Vergnügen dieser rajastanische Schnellimbiss mit sei-nen Menüproduktion beobachten, das Feilschen der Ge- schäftsleute im Eisenwarengeschäft daneben oder des Bekleidungssektors.

   Die Espressobar ist international. Hin und wieder kommt ein Bleichgesichtpärchen rein, angelockt und dankbar über den ungewohnt eigenkulturellen Standard. Alle sehen so abgekämpft aus wie wir. Ich komme mir vor, wie einem Western, indem man seinen halb totgerittenen Gaul vor dem Saloon anbindet und breitbeinig durch die knarzige Schwingtür in die Kühle der Spelunke wankt. Erstaunlich, wie wichtig so vertraute Strukturen sind, und wenn es nur etwas so simples wie ein Café ist. Ähnlich wie wir, lassen sich, vom westlichen Schweiß durchgeweichte Indienpilger in die tiefen, grell ornamentierten Sitzpolster sinken. Erleichterung. Hier gibt es den gesamten urbanen Lifestyle: WLAN, Tripadvisor, Magazine, Café Latte.


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   Und eben gedämpfte Stimmen... Nun ja - wie erklärt man den Begriff gedämpfte Stille in Indien. Trotz mangelnder Sprachkenntnisse des Hindi meinerseits, bin ich mir sicher, dass es hier kein sprachliches Äquivalent zum deutschen Wort Stille geben kann, einzig und allein begründet durch die Tatsache, dass es keine Stille in Indien gibt. Womit für den Inder als solches die alltäglich Notwendigkeit für dieses Wort ein Paradoxon wäre. Die unverschnittene, normale Geräuschkulisse Indiens lässt sich eher mit einer Mischung eines ACDC-Konzertes beschreiben, welches vom Lärmpegel der Rush-hour auf der A40 bei Gelsenkirchen untermalt wird. Zusätzlich wird dieser auditive Overkill mit geräuschtechnische Leckerbissen, wie trällernde oder jodelnde (!) LKW-Hupen abgemischt. So der Normalzustand für das Ohr des Orientreisenden und in diesem Zusammenhang verhält sich die Aussage „gedämpfte Stimmen“ eher so annormal wie ein Mettbrötchen auf einer Veganerparty.

   Der Betreiber dieser Espressobar weiß aber offensichtlich, was er seinen Kunden schuldig ist. Die Geräu-sche der Straße sind kaum wahrnehmbar, dumpf und erinnern nur an ein Echo. Die Chinesen im Innern der Verbotenen Stadt nannten die Geräusche von außer-halb der Mauer nur Stadtecho - ähnlich mutet hier die Geräuschkulisse an. Einem Leviathan in den dunklen Weiten des Meeres gleich, versinke ich in den unergründlichen Tiefen orientalischer Sitzpolster. Das “Tee” löst sich allseitig vom Körper, die gekühlte Raumtemperatur signalisiert der geschundenen Regenzeitphysis “Entspannung”. So beginne ich mit unendlicher Gelassenheit den verkehrstechnischen Overkill seelenruhig unter meinem Fenster vorbei defilieren zu lassen.


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   Mit einem blitzendem Schalk im Auge stellt der der Betreiber einen großen Café au lait direkt vor mein Riechorgan. Der Duft frisch gemalhener Kaffeebohnen bahnt sich unerbittlich den Weg durch mein Sinnesorgan und mein Gehirn meldet den Vollzug des Programms “Wohlfühlen 4.0”. Bin entspannt - nein wirklich - total entspannt.

   Auf der Straße ist jetzt Rushhour! Völlig, zu 100 Prozent. Also, ehrlich gesagt, ist im indischen Verkehr eigentlich immer Rushhour. Gut, es ist voll!? Gut, alle hupen gleichzeitig!? Trinke abwesend einen Schluck dieses Zaubertranks. Natürlich, es ist etwas eng auf der Straße!? Aber, aber? Wer wird sich denn darüber aufregen? Ein weiterer Schluck. Eigentlich ist diese Reportage über Indiens Verkehr total spannend. Gott sei Dank sitzt man gemütlich vor der Mattscheibe und kann dieses Skurilitäten einfach nur genießen. Lehne in den Kissen, Müdigkeit macht sich breit und denke an weiche, flauschige fliegende Teppiche. Das sanfte Echo der verschiedensten Hupen begleitet mich hinüber ins Reich von Shivas Träumen....

   Dann, mit einem Schlag, wird mir heiß und ohrenbetäubendes Gehupte bringt mein dahin dämmerndes Gehirn in Schwingungen. Vielleicht kennt der genei- gte Leser diesen Moment, wenn man aus Tagträumen gerissen wird und sämtlich Sinnesorgane gleichzeit die Arbeit aufnehmen. Eigentlich war nur ein weiteres müdes Bleichgesichterpärchen eingetreten und hatte die gedämpfte Stille der heimisch anmutenden Lokalität kurzfristig für den unverschnittenen Alltagswahn des indischen Straßenlebens geöffnet ....

   Rechts von uns, an der langen Fensterfront hockt ein hippes indisches Teenager-Pärchen. Verschämt, allen Sitten zum Trotz, sitzen sie nebeneinander, eng Schulter an Schulter und führen kirchernd Konversation, die allen Verliebten, in allen Kulturen der Erde gemein ist. Beide mit Jeans und Poloshirt, auch in unseren - durch und durch amerikanisierten Zeiten - für Indien eher ungewöhnlich. Während sich das Tshirt von meinem Rücken löst wird ein zweiter Milchkaffee und ein Mangolassi vor mir abgestellt. Der Geschmack von reifen Mangos wird nur noch durch den Safransirup getoppt, der Jodhpur als Geheimtipp für den Mangolassi gehandelt wird. Abwartend, mit dem weisen Lächeln eines Erleuchteten - man verzeihe mir diese bildhafte Darsatellung, schließlich sind wir im Lande der Erleuchtung - verbleibt unser Gastgeber neben dem Tisch. Unsere anerkennenden Minen quittiert er mit einem Nicken. Safransirup sei eine lokale Spezialität, erklärt er stolz und ich brauch sofort noch einen davon! Das Zeug ist einfach unfassbar lecker.


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   Den Café au lait vor mir, den Geschmack von Mangolassi mit Safransirup auf meinen Geschmacksnerven lungere ich in der tiefen Kissenschlucht auf dem Divan rum und lasse den Herrgott Herrgott sein. Wusste der genneigte Leser übrigens, dass es eine Stadt in der Schweiz gibt, die Lungern heißt und mit folgendem Satz auf der offiziellen Webseite wirbt: Lungern – der ideale Ferienort für Erholung, Sport und Freizeit: „Urlaub, Abenteuer und mehr…“. Wie wahr. Ein weiteres Pärchen - offenkundig reisende Bleichgesichter - finden diese Oase der Stille und den Quell köstlicher Getränke. Schnell stellt sich heraus, dass es ebenfalls Teutonen sind und irgendwie kommen wir ins Gespräch. Er war ehemaliger Leiter einer deutschen Schule in Bombay und schon sind wir mitten im Erfahrungsaustausch, der sich vernehmlich um verdorbene Mägen, Übelkeit und Lebensmittelvergiftungen dreht. Im Verlauf erfahren wir, dass alle Familienmitglieder mindestens einmal im Jahr von einer Lebensmittelvergiftung betroffen waren..... und auch der gesamte Freundeskreis der Familie.....alles Locals, wie es so schön heißt. Tja, so nehmen wir die unschöne Episode zu Beginn unserer Reise als ein eher volkstümliches Ereignis. Während mein Gehirn nach und nach wieder alle Körperfunktionen hochfährt, beginnt mich das Leben unten auf der Straße vor dem Café wieder zu faszinieren. Gegenüber ist eine typisch indische Imbisschmiede. Ich weiß, man muss jetzt nicht zwangsweise erwähnen, dass die Frittenbude nur 2 Meter mal 2 Meter misst, aber in dieser Enge produziert ein indischer Frittenschmied in rasender Geschwindigkeit irgendwelche Teigwaren in einem riesigen Wok voller siedenden Öls. Der Wok sieht eher aus wie eine überdimensionierte Klangschale und sein Druchmesser hat die exakte Breite des Ladenlokals. Gekonnt quetscht, knetet und plattiert er irgendwelchen Teig, versenkt den flachen Teigtaler mit der expressiven Bewegung eines routinierten Teigtaschenversenkers in der siedenden Ölerei, bis sie nach wenigen Sekunden an der Oberfläche von einem  Teigwarenproduktionsassisten- ten mit einem Blechschlegel - der bestimmt schon beim Einmarsch der Briten Mitte des 19. Jahrunderts alt war - abgefischt werden. Die beiden Jungs machen das unermüdlich stundenlang und das ganze Zeug verkauft sich wie von selbst, sodass die beiden mit ihrer Produktion kaum nachkommen. In meinem Kopf gehen sofort die westlich geprägten Effizienz- und Optimierungsgedanken los: Filiale eröffnen,  Personal coachen, Marketingkonzept, Label am Markt platzieren, Produktbranding und Benchmarking, lokale Vertriebswege straffen....

   Abrupt ist der mittägliche Verkaufsboom vorüber und die beiden strecken alle Viere von sich. Anscheinend haben sie die ökonomische Lage völlig realistisch im Griff im Gegensatz zu mir, der vermutlich mit seiner Expansionsidee schon wieder eine mittlere Bankenkrise ausgelöst hätte!


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