Japanische Postkarten . . .
- Ingo

- 17. Juli
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Juli
Depesche 02 - 17.07.2025 - Vor der Abreise - Deutschland

Der geneigte Leser weiß, ich habs einfach nicht mit Lyrik, überhaupt nicht. So gar nicht triffts besser. Was aber natürlich nicht bedeutet, dass ich nicht hin und wieder ein Blick reinwerfe. Meistens gebe ich das nicht zu, denn man möchte ja sein Vorurteil pflegen, auch seine intelektuellen. Außerdem möchte ich bei meinen Nachbarn nicht ins Gerede kommen - wirklich nicht. Wo kämen wir denn dahin, wenn sich rumspräche, dass ich Mopedrocker und Tempelstürmer Hermann Hesse läse. Lächerlich! Na ja - gut. Dennoch beginne ich mit einem Zitat von Hermann Hesse, das mich mein Leben lang berührt hat und mich heute irgendwie durch einen Tag voller Aufbruchsstimmung begleitet. Wie so ein Ohrwurm, den man immer im Ohr hat und der einen nicht loslässt. Also hab ich mal meinen Hesse-Band hervorgekramt. Das Buch ist vor der Öffentlichkeit gut verborgen - so Gerede der Nachbarn und so. Dennoch berührt mich dieser Absatz aus seinem Gedicht Stufen, weil wir wieder mal unsere Taschen gepackt haben und mein Gehirn dem stets anklopfenden Fernweh den nötigen Raum gibt.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

So, lieber Leser, da stehe ich nun - buchstäblich in meinem kurzen Hemd - unmittelbar vor meiner ersten Reise nach Japan und mein Geist ringt um Hesses "weiten"! Also, das ist jetzt mehr so literarisch gesehen, eigentlich habe ich eine Tasse dampfenden Kaffees vor mir - dem Anlass geschuldet in einer hohen, grün melierten japanischen Steinguttasse - und versuche mir der Widersprüchlichkeit meiner Gefühle klar zu werden. Aufgeregt, unruhig und sehr gespannt, wenn ich mal kurz meinen innerer Zustand umreißen sollte. Asien ist nun wirklich überhaupt kein Neuland für mich, aber Japan ist . . . nun ja, was ist es denn nun für mich. Ein zauberhafter Anfang oder scheint es vielmehr das Ziel einer "geistigen Wanderung" zu sein? Vermutlich beides, wenn ich mir das so recht überlege. Zumindest fühlt es sich so an. Von frühester Kindheit an existierte Japan in meinem kindlichen Lebenskonstrukt, so viel ist mal sicher. Quasi nur durch den porösen, grobkörnigen Filter alter Postkarten . . .

Damit der geneigte Leser meine seltsame, frühkindliche Beziehung zu Japan versteht, muss ich etwas ausholen. Wer sich jetzt unter Druck gesetzt fühlt, bitte, man hole sich eine Zigarette, einen Kaffee, ein Glas Wein oder gehe gleich zu Liqueur über! An dieser Stelle muss ich etwas in den jugendlichen Tiefen meiner Lebenskiste kramen - so im Hinblick auf mein fortgeschrittenes Alter - geht es doch um weit zurück liegende Erlebnisse. In unserer Familie gibt es sehr seltsame, nun ja nenne ich es mal vorsichtig, lebenstechnische Existenzen. Darunter befindet sich ein langbärtiger, professoraler Großonkel. Seines Zeichens Archäologe, sprachgewand, kosmopoliter Weltbürger und ein intellektuelles Schwergewicht. Natürlich ist die Studierbude dieses Reisenden mit Büchern vollgestopft, also nicht nur sprichwörtlich, sondern tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes. Vor wenigen Tagen habe ich ihn wieder mal besucht und erneut festgestellt, dass seine Bibliothek für mich definitiv das Format einer Zeitreisekapsel hat. Hier ist die Zeit stehen geblieben, vielmehr meine Zeit. Es ist so ein bisschen wie der Besuch in Dumbledors Büro. Mein persönliches Denkarium sozusagen! Während ich da so in den heiligen Hallen des Wissens saß, den Blick über die stetig gewachsene Anzahl groß-, wie kleinformatiger Wissenswerke schweifen ließ, drängte sich die erste Begenung meines jugendlichen Ichs mit einer, der entferntesten Kulturen unserer Erde in mein Bewusstsein . . .

Als Kind schlich ich mich immer von manch sonntäglicher Kaffeetafel fort und hing mit staunenden Augen zwischen den Büchern ab. Kaum zu glauben, weiß ich, doch ich spreche hier von der guten alten Zeit, in der das Tor zur Welt ein Buch, eine filmische Reportage oder eben ein altes grobkörniges Bild war. Irgendwie hatte ich auf meiner Entdeckungstour ein Buch über Japan gegriffen und beim Durchblättern fielen Postkarten in Form alter japanischer Fotografien heraus. Irgendwie war das ein seltsamer Moment, was ich sehr schlecht in Worte fassen kann. Alte schwarzweiß Fotografien, mehr zweidimensional flächig, grobkörnig, überwiegend scharf und doch teils mit streifigen Unschärfen. Im Nachgang ziemlich grell und meist auch schlecht koloriert, zumindest im Hinblick auf unsere heutige Digitalperfektion, was den Bildern einen Ausdruck des Surrealen verlieh.

Da waren Geishas zu sehen, die in scheinbar "gebügelter" Perfektion inne hielten, Samurai, deren Pose mehr Theater war, als zur Schau gestellter martialischer Kriegerkodex, und Tempel, die wie Bühnenbilder in einer Kulisse standen. Seltsam erstarrt, nichts wirkte lebendig. Aber - alles wirkte gewichtig. Ich wusste natürlich damals nicht, dass diese Starrheit einen technischen Hintergrund hatte. Ich stelle mir immer vor, wie so ein junger Kerl aus Paris oder London zu so einer extrem anstrengenden Reise aufbrach, mit schwerstem Equipment, Chemikalien, beschichteten Papieren, Dunkelkammerutensilien, usw., um dann am Ende der Welt mit langen Belichtungszeiten zu kämpfen. Was für ein motivtechnisches Paradies muss Japan oder überhaupt der Orient für die ersten europäischen Fotografen gewesen sein. Wenn ich daran denke, das meine kleine Drohne nur 249 Gramm wiegt und auch noch bei Windstärke 5 unverwackelte Bilder in 4K liefert, muss ich ein wenig schmunzeln, so in Anbetracht der Starrheit dieser alten Postkarten. Vermutlich bat der junge französische oder englische Fotograf seine "Modelle" höflich um, heute nahezu unvorstellbar, regungslose Geduld. Bilder, in denen jedes Zucken, jedes Blinzeln, jede Bewegung die Aufnahme ruiniert hätte. Also standen sie still, und mit ihnen erstarrten auch die Vorstellungen ihrer Lebenskultur.

Da stand ich nun, die Hände voll mit alten Fotografien, von einer scheinbar stehengebliebenen Zeit. Wie gesagt, die Kolorierung der Schwarzweiß-Fotografien verlieh den Bildern etwas Surreales, was ich übrigens bis heute so empfinde. Während sich Farben unseres Lebensumfeldes ja in ständiger Nuancierung befinden, wurden diese Farben nachträglich aufgetragen: zu grün, zu rot, zu blau. Die Gesichter manchmal geisterhaft weiß, die Kleidung unnatürlich bunt. Das erstarrte Abbild wird überzeichnet, nur noch eine Interpretation der Realität. Und gerade diese Interpretation des Fernen, des Exotischen, schien mich in seinen Bann gezogen zu haben. Japan war nicht das, was war. Sondern jenes, was dargestellt wurde. Interessanterweise sind wir damit schon genau im digitalen Dilemma unserer Tage angekommen, also, wenn ich es mir so recht überlege. Vielleicht ist die Entdeckung dieser alten japanischen Postkarten der Anfang meiner Faszination für ein Land, das ich mir bis heute nicht vollständig erklären kann . . .

Ein wenig muss ich schmunzeln, da ich hier vor dem Tor des digitalen Orbits sitze und mir wieder einmal bewusst wird, dass in meinem kindlichen Hirn, lange bevor heute das Internet unbekannte Welten in Sekundenbruchteilen entzaubert, alte, kolorierte Postkarten aus Japan, mein Fernweh weckten. Postkarten, aufgenommen um ca. 1900, deren kontrastreiches Schwarzweiß nachträglich mit Farbe überzogen wurde, und die Kolorierung so fragile Töne erzeugte, dass sie irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit schweben. Aber, gerade diese surreale Farbigkeit war es, die mich damals faszinierte, keine Frage. Sie ließ mich glauben, Japan sei kein realer Ort, sondern mehr so eine gestellte Kulisse. Eine fremde, exotische Welt, so ganz anders als die eigene frühkindliche Lebendigkeit meines

Umfeldes. Die Grobkörnigkeit der Drucke, die verschwommenen Konturen, das matte Papier – all das war mein Tor zu Japan. Und auch eine Ahnung, ja eine, nicht gut greifbare Vorstellung, die sich immer in irgendeinem verborgenen Winkel meines Gehirns festsetzte. Wie ein Raum aus Farbe und Schweigen. Jede dieser Postkarten wurde zu einem visuellen Fragment, einem Blickfenster, einem stummer Bericht von etwas, das mir aber bisher immer fremd bleiben sollte. Japan ist eins der Länder, das ich seit frühesten Kindertage schon unzählige Male in Gedanken durchwandert habe, ohne es je betreten zu haben. Meine eigentliche Japanreise beginnt schon vor Jahrzehnten – mit diesen Bildern - oder genauer formuliert, mit diesen alten Postkarten.

Natürlich drängen sich Fragen auf, so viel ist mal sicher. Wird uns die Realität enttäuschen? Wird der Hochgeschwindigkeitszug die festgefrorene Mystik alter, verschlafener Straßen verschlucken? Wird das grelle Neonlicht Tokyos die sanften Pastelltöne meiner Kindheitsphantasien überstrahlen? Natürlich weiß mein Hirn, wie es im heutigen Japan aussieht, keine Frage. Aber in irgendeinem kleinen Stübchen meines Verstandes geistern diese Postkarten immer noch herum. Vielleicht werde ich beides "finden", nenne ich es mal vorsichtig, die Gleichzeitigkeit des Alten und Neuen? Vielleicht sind die heutigen Automaten, die in Japan tatsächlich alles verkaufen – vom heißen Kaffee bis zum vollautomatischen Aufziehen von Panzerglas auf Mobiltelefone – nichts anderes als moderne Versionen jener geheimnisvollen Postkarten, wer weiß das schon?

Bevor der geneigte Leser jetzt hier den Eindruck bekommt, ich würde in Japan krampfhaft nach der Vergangenheit suchen, den muss ich leider enttäuschen. Wie immer, wenn ich ein Land erstmalig bereise, freue mich auf die unerwarteten Momente der "Unschärfe". Auf die Augenblicke, die sich meiner Kamera und meinen vorgeprägten "Gehirneinstellungen" entziehen. Auf Menschen, die nicht für ein Bild stillhalten, sondern in Bewegung sind. Vielleicht wird der digitale Lärm Tokyos und Osakas die Stille dieser alten Postkarten verdrängen. Vielleicht wird die scharfe, hochauflösende Realität des japanischen Lebensgefühls meine kindlich gehegten Vorstellungen auflösen. Vielleicht finde ich dennoch diese Momente, die sich anfühlen wie eine alte, kolorierte Postkarte. Momente, die nicht laut und klar, sondern fremd und leicht entrückt wirken. Ein Blick, ein Lächeln, ein Licht auf einem Tempeldach, wer weiß das schon? Fragen über Fragen des Orients!




