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Der Lack ist ab . . .

  • Autorenbild: Ingo
    Ingo
  • 15. Juni
  • 7 Min. Lesezeit

Depesche 10 - Jaipur - 2018


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Länger kann ich die Schmerzen in meinem Bein wohl nicht ignorieren und in den frühen Morgenstunden google ich alles zum Thema Thrombose, übersetze mir die wichtigsten medizinischen Fachbegriffe und suche schon mal heraus, welches indische Krankenhaus in Frage kommt. Die Wahl fällt auf die SMS-Clinic, hat nichts mit Mobiltelefonen zu tun, nur die Abkürzung für das Universitätsklinikum von Jaipur.

   Um 9 Uhr morgens stehen wir vor dem imposanten Bau und wissen natürlich nicht wohin. An jedem Eingang steht ein Sicherheitsfuzzi in Kakhiuniform und fragt jeden was er hat, damit der unaufhörliche Strom von Patienten richtig kanalisiert wird. Wird beschreiben die Symptome, sehr zum Interesse der umherstehenden 100 Personen. Krank sein ist in Indien keine Privatsache, wie ich später feststellen soll. Da er des Englischen nicht mächtig ist, aber glaubt verstanden zu haben, woran ich leide, schreibt er auf Hindi etwas auf einen Zettel und schickt uns weg. Tja, aber wohin? Wir gehen einfach zum nächsten Gate, wo man uns wegschickt. Also zum nächsten Gate, da zeigt jemand auf ein weiteres Gate und wir landen in der Traumaabteilung des Klinikums. Alles ist voll, Patienten sitzen und liegen, die meisten haben Prothesen. Dafür ist es noch zu früh, denke ich und spreche mit der Annahmestelle, wo sich alle registrieren lassen. Natürlich spricht niemand Englisch und wir werden rumgereicht, bis wir in der Physiotherapie landen und eine Physiotherapeutin uns mitteilt, dass wir da ganz falsch sind. Ach was! Aber wohin? Das ist ihr auch nicht ganz klar, erst mal zu einem Arzt. Gut, ein Anfang. Zunächst werde ich datenmäßig erfasst, schon dass ist ein Spaß, die Form unserer Adressen geht nicht mit der Adressenform in Indien konform. Aber mit Hilfe zweier Physiotherapeuten bekommen wir das hin. Die Registrierung kostet übrigens 10 Rupien.

   Dann zu einem Arzt. Die beiden Jungs schleusen mich an allen liegenden und stehenden Patienten vorbei in einen Behandlungsraum. Es gibt keine Sitzplätze, braucht man in der Traumaabteilung auch nicht. Vor jedem Behandlungsraum steht wieder ein Sicher- heitsbeamter, der genau die Unterlagen prüft und dann den Patienten zum Arzt vorlässt. Fand ich seltsam, aber ich wurde später eines besseren belehrt. In einem Behandlungszimmer arbeiten zwei Ärzte, die man nicht erkennen kann, da sie in der Regel kein Weiß tragen. Da sind also gerade 10 Typen und alle reden durcheinander, so frage ich einen der Physiojungs, wer denn jetzt wohl der Doc ist. Völliges Unverständnis schlägt mir entgegen, als ob das denn wohl nicht klar wäre. Übrigens sind alle Behandlungszimmer verglast, sodass die Untersuchung ein klares Gemeinschaftserlebnis ist. So richtig Englisch kann hier eigentlich keiner, trotzdem versuche ich meine Symtomatik zu erklären und was ich vermute, der Grund sein könnte. Zeige ihm meine Heparinspritze für den Rückflug, die er in die Hand nimmt, hochwichtig begutachtet, verneinend den Kopf schüttelt und sagt, dass ich Heparin bräuchte. Aha!?! Soso, gut! Wichtig für den Indienreisenden: es gibt ein verneinendes und ein bejahendes Kopfschütteln. Verwirrend nicht? Mit der Zeit kriegt man es raus, aber diese Feinheiten verrate ich hier nicht. Das muss der geneigte Indientourist selbst herausfinden, wo bliebe sonst der Spaß am kulturellen Missverständnis?

   Und nu? Lange Diskussion und die zwei Physiojungs werden abgestellt, um mit uns den Klinikmarathon zu machen.

   Zunächst irren wir durch die Klinik, da die Physiojungs vermutlich noch niemals woanders in der Klinik waren als in ihrem Traumaabteil. Schließlich landen wir bei einem Phlebologen, man glaubt es kaum. Nun kommt es zu folgender Situation: Vor dem Behandlungszimmer hocken etwa 200 Menschen auf dem Boden, natürlich ist nur ein Viertel davon Patient. Im Innern des Raumes sind bestimmt 20 Personen und davor steht der Sicherheitsbeauftragte, der gerade stressbedingt sein Barett abnimmt und sich die Stirn wischt. Nun drängeln die beiden Jungs uns zwei noch durch die Menge bis zum Schreibtisch eines Arztes, der einen weißen Kittel trägt. Immerhin fällt die Identifikation des Arztes hier leichter. Eine Behandlung läuft folgendermaßen ab: Alle sitzen um den Arzt und winken ihm mit den Registrierungspapieren zu und derjenige, der es schafft, das Papier in direkten Augenkontakt zu bringen, wird behandelt. Es ist so unfassbar laut, dass der Sicherheitsmensch sich gezwungen sieht, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, was eigentlich max. 30 Sekunden anhält. Fast glaube ich, dass er gleich eine Trillerpfeife zückt, um seinem Anliegen Autorität zu verschaffen. Gnadenlos drängeln sich die Jungs bis zum Doc vor und zeigen auf mich. Huch, ein Bleichgesicht. Interessiert betrachtet er mich über seine Lesebrille, fühle mich ein bisschen wir ein Insekt auf einem Objektträger. Er hört sich alles in Ruhe an und murmelt in gebrochenem Englisch, „We`ll need further investigation!“. Brabbelt was zu den Jungs, schreibt irgendwas auf meine Registraturpapier und schwupp tingeln wir wieder durch die langen endlosen Flure der Klinik. Nach zwei erneuten Fehlversuchen die richtige Abteilung Ultraschall zu finden, landen wir schließlich da, wo ich hin soll. Einer der Jungs teilt mir mit bedauerndem Blick mit, dass ich den Ultraschall bezahlen muss, ok - kein Problem - wieviel? 600 Rupien, etwa 7,50€Euro. Darüber hinaus müsse ich mindestens 15 Minuten warten. Der Vorraum ist voll schwangerer Frauen und an der Wand hängt ein Schild, dass diese Klinik keine frühkindliche Geschlechterfeststellung durchführt, da dieses gesetzlich untersagt ist. Das ist ein langes und dunkles Thema in Indiens Gesellschaftssystem. Oftmals treiben die Eltern den Fötus ab, wenn sich herausstellt, dass der Fötus weiblich ist. Per Gesetz ist die frühkindliche Geschlechterfeststellung verboten, oft werden aber die Ärzte bestochen......

   Nach einem 10 minütigen Alibiwarten werde ich aufgerufen, was mir etwas peinlich ist, da bestimmt 50 schwangere Frauen auch noch warten. Ich werde in einen abgedunkelten Raum geführt, in dem 4 Ultraschallcomputer modernster Technik, jeweils an 8 LKW-Batterien angeschlossen sind. Unabhängige Stromversorgung nennt man das wohl. Frau Prof. Dr. und den Rest hab ich vergessen in weißem Kittel bedeutet mir ohne ein Wort Englisch, mich zu entkleiden und auf die Liege zu legen. Die Klimaanlage hat gerade mal 17° Grad - draußen sind es über 35° Grad - und ich beginne sofort zu frieren. Sie verzieht keine Miene, sagt kein Wort und beginnt mit der Untersuchung, sehr professionell wie ich finde. Nach 10 Minuten haben alle drei anderen Ultraschallärzte ihre Arbeit unterbrochen und stehen hinter Frau Prof. Alle schauen nachdenklich bis besorgt drein, was mich wiederum besorgt macht. Dann wird die Tür aufgerissen und Hektik kommt auf. Da ich auf dem Bauch liege kann ich nicht sehen welcher Notfall die Aufmerksamkeit des gesamten Ärzteteams fesselt. Gut - es ist der Teeverkäufer und alle stehen um eine leere Liege und trinken erst mal einen Chai. Anderes Land, andere Gepflogenheiten. Nach gut 20 Minuten Untersuchung, die Teepause mit eingerechnet, darf ich aufstehen. Keiner sagt ein Wort, verunsichert schaue ich Frau Prof. an und will Antworten. Sie verzieht keine Miene und in gebrochenem Englisch erwidert sie: „It´s a thrombosis!“ Aha, schwer, schlimm, lebensbedrohlich? Ich finde, ein gewisses Maß an Informationen wäre in diesem Fall angebracht, zumal sie mich todernst anschaut. Als ich sie frage, ob ich irgendwas wissen sollte, da lächselt sie und sagt, dass sie nur „Diagnostics“ wäre, aber sie nicht glaubt, dass es ein schwerer Fall ist. Die Medikamention muss der Kollege bestimmen. Bei mir scheint der Lack ab zu sein, denn bisher hatte ich auf meinen Reisen nie irgendetwas..... Zuerst eine Lebensmittelvergiftung und jetzt das!

   Ok, also wieder zurück zum Phlebologen. Annika ist leicht unruhig, weil es so lange gedauert hat, berichte ihr von der ausgiebigen Teepause und sie entspannt sich. Zurück beim Phlebologen hat sich die Patientensi- tuation etwas verschärft, da der Sicherheitsmann nicht alleine der Situation Herr wird und alle Patienten unkontrolliert in das Behandlungszimmer hereindrängen. Aber Dank unserer Physiojungs werde ich (Anni muss im Hinblick auf die Raum/Menschendichte draußen bleiben) durch die Menge bugsiert und auf einen freien Stuhl vor dem Doc gepresst. Schweigend studiert er das gute Dutzend Ultrshallbilder, die Frau Prof. gemacht hat, dann lächelt er mich an: „There is nothing to worry about!“. Puh, OK. Eine leichte venöse Thrombose, verursacht durch massiven Flüssigkeitsverlust und das eingeengte Sitzen im Toy Train. 5 Tage Heparin, danach 30 Tage Pillen. „And avoid stairs!“ Das gelobe ich bei Shivas blauer Hautfarbe. So weit so gut, aber welche Pillen, woher die Pillen, Fragen über Fragen. Geschäftig schreibt er was auf meine Krankenhausunterlagen und drückt sie den Physiojungs in die Hände. Dann legt er die Hände zu einem Wa zusammen und lächelt. „It´ll be allright“. Das hoffe ich, kann mich kaum verabschieden, denn unsere Clinicguides sind schon aus der Tür und um meinen freien Stuhl entbrennt ein Streit, den selbst der hereindrängende Sicherheitsmann nicht schlichten kann. Inzwischen ist es halb elf und das Chaos, das auf Jaipurs Straßen herrscht, scheint sich in der Klinik fortzusetzen. Alle Gänge sind proppenvoll, überall liegen Patienten im Kreise ihrer Angehörigen. Dennoch ist es eine friedliche Stimmung. Über den Hygienestandard möchte ich hier nicht berichten, er erinnert sehr an eine Krankenhausreportage aus der dritten Welt. Wir hasten hinter dem Physioduo einher auf dem Weg zu Krankenhausapotheke, die unverkennbar dort lokalisiert ist, wo riesige Menschenschlangen wogen. Es gibt 18 (!) Apothekenschalter und wieder drängeln sich die Jungs brutalst nach vorn. Nach 2 Minuten habe ich zwei verschiedene Blutverdünner in Tablettenform und auf meine Frage was ich bezahlen muss, schauen beide ratlos hin und her, denn in Indien werden Tablettenmedikamente unentgeltlich herausgegeben. Für das He- parin hat der Arzt einen Bezugsschein ausgefüllt und das bekomme ich an einer privaten Apotheke auf der anderen Straßenseite. Um 11 Uhr stehen Anni und ich am Straßenrand, um ein Taxi zum Anouki-Café anzuhalten. Ohne die beiden Jungs würden wir immer noch durch die Gänge irren, wüssten nicht was Sache ist und so haben sie uns in ca. 2 Stunden durch das ganze Procedere geschleust, das wir allein nie geschafft hätten! Alles zusammen, Behandlung, Ultraschall, Heparinspritzen haben jetzt 42€Euro gekostet. Für den Arztbesuch daheim möchte ich die Unterlagen haben, einer von beiden hielt sie die ganze Zeit zusammen, zuckt jetzt mit den Schultern und drückt mir den ganzen Stapel in die Hand. Ein Trinkgeld wollen sie auf keinen Fall annehmen und noch bevor ich mich verabschieden kann, sind sie in der Masse der Menschen untergetaucht. Ich schaue die Unterlagen durch und stelle fest, dass ich auch den Registrierungsbogen in den Händen halte, da werde ich beim nächsten Besuch der SMS Clinic Jaipur wieder 10 Rupien für die Aufnahme bezahlen müssen.

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