Da war mal eine Bremse . . .
- Ingo
- 2. Juni
- 17 Min. Lesezeit
Depesche 05 - Pyay - Sri Ksetra - 2016

„Mingalarba und Nein, er sei nicht Pangabar - er sei nur der Manager von Pangabar´s“, so beginnt unser Morgen. Nachdem wir des Nachts von ortskundigen Englischunkundigen in zwei Minuten bei Pangabars abgeliefert wurden, habe ich wie ein Stein geschlafen, trotz der massiv femininen Blumenbettwäsche. Das Bad liegt den Flur runter und ist doppelt so groß wie unsere Sperrholzbude. Obwohl alles blitzsauber ist, bekommt man den Eindruck, dass alles siffig ist. Der Monsoon erzeugt einfach einen Raubbau mit nicht traditionellen Baustoffen. Wo immer die Burmesen Holz verwenden, ist alles poliert und glänzend geschruppt. Da, wo sie versuchen westliche Zivilisationseinflüsse zu imitieren, geht es unweigerlich schief. Der Boden des Badezimmers weist unterschiedliche Fliesenepochen und Bauphasen auf, teilweise sind die Fugen von der permanenten Feuchtigkeit total schwarz, mal sind sie nagelneu und

noch jungfräulich grau. Die Verrohrungstechnik für Zu- und Abwasser ist abenteuerlich, der geneigte Leser erinnere sich an die Verkabelungstechnik in Rangoon, so ungefähr muss man sich auch die Anlage der sanitären Grundstruktur vorstellen. Das alle naselang eine Toilette verstopft, wundert das Bleichgesicht kaum, da bei den WC-Abwasserrohren mit bloßem Auge kein Neigungswinkel festzustellen ist. Heimlich nehme ich mir vor, mit der Wasserwaagen-App des iPhones den Winkel zu messen und solange ggf. das WC im besten Haus am Platze zu benutzen, dass gar keine Wasserspülung hat. Wie sagt mein grundentspannter Lieblingsbasarhändler in der Türkei in solchen Fällen immer: „Problem yok!“ Der „Manager“ ist ein eher ungewöhnlich aussehender Burmese und ziemlich „laid back“, wie der handelsübliche australische Surfer sagen würde. Er hat lange, grau-melierte Haare, ein feines,

wenn auch breit geschnittenes Gesicht und nur leicht mandelförmige Augen, was ihn eher wie einen römischen Patrizier aus Quo Vadis aussehen lässt. Heute Morgen trägt er ein pinkes Poloshirt, was zu seiner glatten, haarlosen, kaffeebraunen Haut einen ziemlich harmonischen Kontrast ergibt. Würde er einen dunkelblauen Anzug tragen, könnte man ihn förmlich über das Forum Romanum laufen sehen. Einzig die asiatische Sitte, Barthaare lang aus einer Warze herauswachsen zu lassen, stört das römische Konterfei, welches ich ihm in meinem wirren Designerhirn verpasst habe. Doch seine sprühenden Augen und sein humorvolles Grinsen machen ihn so umwerfend sympathisch, dass er sicherlich allein mit seinem Lächeln, einer hellenistischen Sirene gleich, jeden dahergelaufenen Touristen einfängt. Morgens nimmt der geneigte Gast sein Frühstück in den Räumlichkeiten ein, die zur späten Stunde auch als Rezeption fungieren. Die hölzernen Verschlagswände sind morgens aufgeklappt und lassen noch (!) angenehm kühle Luft in die Frühstücksgaragenrezeptionsräumlichkeiten. Nun ja, wir sprechen hier über bestimmt 35 Grad und einer morgendlich kühleren Luftfeuchtigkeit von nur 60%. Das reisende Bleichgesicht wird halt demütig und ist schon mit kleinen Dingen wie nur 60%, statt der in Monsoonzeiten üblichen 85% Luftfeuchtigkeit, zufrieden. Als wir unser Begehr nach Sri Ksetra zu wollen, offenbaren, nimmt er, wie selbstverständlich alles in die Hand und organisiert wild darauf los. Nach ultimativen 10 Minuten ist alles geklärt und ein „privates“ motorisiertes Dreirad steht zur ganztägigen Verfügung vor Pangabars. „Er ist nicht ganz billig“, teilt er uns mit leicht peinlich berührtem Achselzucken mit. „Aha, was heißt nicht ganz billig“, meine verunsicherte Nachfrage. „Etwas 6000 Kyat!“ Nun gut, 3,90 €€für den ganzen Tag Rumkutschiererei, ich bin peinlich berührt, was er missversteht und einen erneuten Verhandlungsanlauf nehmen will. Wir halten ihn zurück und versichern, dass das mehr als nur fair ist.

Also nix wie los zum geballten Kulturprogramm. Wir lassen die große Pagode von Pyay links liegen und heben uns diese für später auf. Natürlich ist sie komplett vergoldet, was man eigentlich nicht erwähnen müssten, denn in Burma sind alle Pagoden komplett vergoldet. Wir verschieben das religiöse Ferrero Roche auf die Abendstunden und hoffen auf wolkenlosen Himmel. Die Regenwolken hängen tief und ihre bleierne Farbe verheißt nichts Gutes für einen kulturgeschwängerten Sightseeingausflug, aber mal ehrlich, die Temperatur ist schweißtreibend, so dass etwaiger Regen am täglichen Zustand meines Tshirts eigentlich nicht viel verändern würde.
Dann sind wir endlich in Asien angekommen! Unser Fahrer fädelt sich aus der verschlafenen Seitenstraße, an der das Pangabars liegt, und wir sind in richtigem Verkehr angekommen. Diese peinliche Nummer in Rangoon war ja auch nun wirklich nichts, wer hält denn schon östlich von Wien an einer Ampel an? Lächerlich! Hatte schon Sorge, dass Anni insgeheim glaubt, ich hätte ihr nur Märchen über den asiatischen Umgang mit jedwedem Transportvehikel als solchem erzählt. Aber nun ist es soweit, märchenhaft im wahrsten Sinne des Wortes. Überall gibt es kleine Mopeds, die unkontrolliert aus jeder Richtung angeschossen kommen, untermotorisierte Lastendreiräder, mit einer mehrere Meter hoch gepackten Ladung und nahezu luftleeren Reifen, deren Mangel an Luft sogar die bereifte Luftarmut der Rostlauben meiner zugezogenen Erstsemester schlägt. Hier hängen gut ein Dutzend Hühner mit zusammengebundenen Beinen über einem Gepäckträger, der außerdem noch die Gattin und den mehrköpfigen

Nachwuchs des Piloten tragen muss. Unzählige kleine Busse und offene Ladeflächen befördern Menschen jeder Coleur und jeden Alters, Frauen, Kinder, dazwischen auch mal ein kleineres Rind oder eine größere Ziege. Alles in allem ein wunderbares Sammelsurium für die Sinne. Die Frauen tragen bunteste Farben und häufig zusätzlich Lasten auf dem Kopf, so dass ich spontan Phantomschmerzen im 4./5. Nackenwirbel bekomme. Die Männer sind alle im Rock unterwegs, egal ob mit Aktenkoffer, Regenschirm oder Krawatte. Es ist herrlich und Anni kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus, besonders der burmesische Tiertransport mit seinen interessanten Auswüchsen, sogar zwei -ausgewachsene - lebende Schweine auf dem Gepäckträger einer 25er Honda Spirit zu montieren, ist hier an allen Ecken zu sehen. Skuril, aber ein tolles Wimmelbild menschlicher Lebenswege mit einer sehr eigenwilligen Lebensdynamik. Sofort fühle ich mich pudelwohl und sehe in Annis Augen die gleiche Panik, die mich ergiff, als ich das erste Mal in Vietnam, frisch gelandet in Noa Bai, von einer Angestellten der Universität eingesammelt wurde und der leicht ungeduldige Fahrer beim Verkehrsstillstand auf seiner Spur einfach auf die zweispurige Gegenfahrbahn auswich und einem Geisterfahrer gleich stadteinwärts öttelte. Genieße das Chaos und die absonderlichen Erscheinungsformen asiatischer Verkehrstechnologie und nach einer halben Stunde bemerke ich, dass Annis angespannter Gemütszustand gelassener Faszination gewichen ist. Man stelle sich den hektischen Genuss vor, wir würden daheim alles, von der Oma, Gattin, Kinder bis zum Kaninchen mit einem Moped zum Markt transportieren und mit etlichen blauen Fluddertüten, in denen unsere Einkäufe verstaut werden, ans Moped „gedängelt“ wieder in die gepflegte verschlafene Peripherie unseres Daseins zurückknattern. Nicht zu vergessen, dass man zum Markteinkauf natürlich nicht von seinem Vehikel absteigt, - wie albern - sondern alle Besucher schön zwischen den Marktständen hin und her kurven. Wie überall in Asien besteht der Alltag eigentlich nur aus dem Transport von Menschen, Tieren und Lebensmitteln von irgendwoher nach irgendwohin.

Nachdem wir eine schwere Gasflasche, die übrigens mit offen liegendem Ventil bei der elenden Rüttelei im „Fußraum“ unseres Motordreirads hin und her flog bei seinem Besitzer abgeliefert hatten, juckeln wir raus aus der Stadt und aufs Land. Die Kombination aus eigentlichem Lieferservice als Haupterwerb und gleichzeitigem Bleichgesichttransport hat in diesem Teil der Welt unbedingte Tradition. So wurde ich mal in Kalkutta stundenlang raus aus der Stadt gefahren, um irgendein Packet abzuholen, was dringend ins Stadtzentrum musste, was wiederum ebenfalls Stunden dauerte. Also, nur damit der geneigte Leser das nachvollziehen kann, Stunden bedeuten im indischen Verkehr nicht zwangsweise große Distanzen. Nun ja, Kalkutta hat geschätzte 30 Millionen Einwohner, die meistens alle gleichzeitig ins Zentrum wollen .... schätze wir sind nicht mehr als 1,5km raus und 3 km wieder rein in die Stadt gefahren, aber neben üblichen Side effects des indischen Verkehrswesens, wie Rauchvergiftungen oder massiven Magenverstimmungen, kommt man eigentlich nur zu Fuß einigermaßen voran ... aber zurück zu Burma.

Sri Ksetra ist eine monumentale Sammlung bröckeliger Backsteingemäuer religiösester Ausprägung, die ein Typ namens Duttabaung irgendwann im 5. Jahrhundert aufeinandergetürmt und ein Mäuerchen drumherum gezogen hat. Natürlich ist ihr Stil bahnbrechend für die gesamte architektonische Entwicklung des burmesischen Sakralbaus der vergangenen 1500 Jahre. Auf dem Weg aus der Stadt stolpern wir schon über den ersten Backsteinzuckerhut. Bestimmt 30 Meter hoch, einem konisch aufgeblasenen Straßenpylonen in der Kölner Faschingszeit gleich, thront der Steinhaufen unprätentiös neben der Hauptstraße. Er besteht aus gebrannten roten Ziegeln, deren Kaminrot über die Jahrhunderte verwaschen und ausgeblichen sind. Viel zu sehen gibt es nicht, und da niemand der vorbeirauschenden Burmesen dem Backs nur eines Blickes würdigt, und auch keine Bleichgesichter, bewaffnet mit einer Stalinorgel ähnlichen Batterie an optischen Geräten und einem kulturgeschwängertem glasigen Blick, fahren wir Banausen weiter und hoffen auf etwas ansprechende Formdetails, denn glattes Ziegelmauerwerk ... nun ja, Westfalen ist nicht nur die Hauptstadt der Beamten und Pferde, nein, es ist auch die ungekrönte Perle des roten Brandziegels. Also, bei Ziegelmauerwerk macht niemand einem alten Westfalen etwas vor, auch kein 1500 Jahre alter Burmese. Die eigentliche Stadt Sri Ksetra liegt gut 8 Kilometer außerhalb von Pyay und schon kurz nach der Stadtgrenze werden Siedlungen von weiten landwirtschaftlichen Nutzflächen abgelöst. Die feuchten und tiefgrünen Reisfelder reichen bis zum Horizont, nur hier und da gibt es ein Ochsengespann, welches mit unfassbarem Gleichmut den primitiven Holzflug durch die schlammige Erde zieht. Die Luft, wenn auch monsoonschwer, hat einen unglaublich würzigen Charakter bekommen, was vermutlich nicht nur daran liegt, dass uns kaum noch Fahrzeuge begegnen. Das satte Tiefgrün der Vegetation ist betörend, die Geräusche des Lebens um uns herum muten sich fremd und doch wieder gewohnt an. Vögel zwitschern wild um die Wette, an den Bäumen hocken allerlei bunte Reptilien und immer wieder erstaunen die rudimentären landwirtschaftlichen Hilfsmittel, die bei uns schon seit gut 100 Jahren nicht mehr in Verwendung sind. Zwischen den Reisfeldern stehen kleine, auf Stelzen gebaute Holzhütten, deren Dächer aus gebundenen Reisstrohgarben bestehen und Bambusgeflecht die Beton- oder Ziegelwände

ersetzt. Von der Hauptstraße, die sich dammähnlich durch die Felder schlängelt, biegen wir auf eine rote Sandpiste ab, die uns durch kleine Dörfer und Palmenhaine führt. Wir kreuzen einen buddhistischen Mönch in tiefroter Robe, der seinen Regenschirm zum Schutz gegen die Sonne benutzt. Alte Frauen transportieren Reisgarben in jeweils zwei Körben, die sie an einer Querstange über der Schulter befestigt haben. Mittelalter durchfährt es mich, die Zeit hat sich verlangsamt und ein geruhsameres Lebenstempo ist deutlich zu spüren. Unser Fahrer spricht gebrochen Englisch und versucht uns vieles zu erklären auch „Hobi, hobi“. Der Burmese als solcher ist noch nicht unserem Amerikanisierungswahn verfallen und es gibt hier kein „Okay“ oder „Cool“. Dafür sagt man einfach Hobi, hobi. Passt irgendwie immer - hobi, hobi. Einfach mal ausprobieren, ist auch herrlich befreiend von unserem Denglisch. Vielleicht ist es ja sogar an der Zeit für etwas Durmesisch! Hobi, hobi. An der ehemaligen Stadtmauer von Sri Ksetra halten wir an. Also ehrlich, wenn unser Fahrer nicht darauf hingewiesen hätte, dass es sich um die sagenumwobene Stadtmauer von Sri Ksetra mit ihren 32 Haupt- und 32 Nebentoren handelt, wäre ich glatt an der Beeteinfassung vorbeigefahren. Streckenweise gibt es noch die Grundmauern, ca. 2 Ziegelsteinreihen hoch mit gepflegten Rasenflächen dazwischen. Hmmm, so, so, Stadtmauer, aha!?! Muss zugeben, dass ich ein bisschen enttäuscht bin, denn das ganze kulturhistorisch wertvolle Kleinod hat den Charme eines spät 80er Jahre Ziermäuerchens, das in meiner Heimat die Nouvelle Cuisine des westfälischen Gartenambientes ist. Hobi, hobi, sozusagen. Also weiter, jetzt will ich eine richtige Pagode oder Stupa, so mit allem Drum und Dran! Die dörfliche Struktur weicht immer mehr tiefgrünen Reisfeldern, hier und da begegnet uns noch ein fröhlich lächelnder Reisbauer mit seinem Gespann, als


wäre der Viehtrieb in dieser feuchten Hitze in Gummistiefeln und Tropenhelm geradezu normal. Bei einem kleinen Gehöft stoppt der Fahrer seinen Blechofen, und in der Stille bleibt neben dem unaufhörlichen Zirpen der Zikaden nur noch das leise metallische Knacken des erkaltenden Motors. Das Gehöft ist eigentlich nur ein kleines Stelzenhaus, das im Schatten einiger Gummibäume leicht erhöht am Rande einer Senke liegt. Umgeben von Bruchholz und Mimosen liegt vor der windschiefen Treppe ein dösender Hund, der unsere Anwesenheit mit einem geöffneten Auge wohl verfolgt, aber wohlweißlich auch ignoriert, bevor ihm irgenwelche Wachdienste in der windstillen Hitze des Mittags abverlangt werden. Etliche Küken eines graumeliertes Huhns, das emsig mit dem Aufpicken verschiedenster Körner beschäftigt ist, irren verschämt und leise gackernd umher. Wenige Meter weiter liegt in der flachen Senke einer der malerischten Orte, die ich je gesehen habe. Ein kleiner kristallklarer See, dessen Ufer von einem breiten Gürtel blühender Lotospflanzen gesäumt wird, am anderen Ufer erheben sich auf sanft geschwungenen grünen Hügeln Palmen und Mangobäume. Über dem Dach des Wäldchens thront im Hintergrund die Spitze der Bawbawgyipagode. Ein Baumstamm bietet dem weitgereisten Bleichgesicht die bequeme Möglichkeit zur Einkehr. Unser Fahrer zieht sich diskret zurück, als wüsste er um den romantischen Moment im Angesicht solcher Schönheit. So verharren wir ergriffen in kontemplativer Stille, lauschen dem intensiven Rauschen der Palmblätter im aufkommenden Wind, der hitzige Vorbote des herannahenden Monsoons. Zurück am Dreirad überkommt mich die irrige Idee, ob der nette Fahrer mich wohl seinen motorisierten Feuerstuhl fahren lässt? Er ist verunsichert, reagiert sehr zurückhaltend und erst Annis beruhigenden Worte, dass der Rotbart das wohl kann, lassen ihn zögerlich zustimmen. Eigentlich ist alles ganz normal, außer vielleicht, dass sich das Sitzen in diesem Cockpit anfühlt, als wäre es in der Wäsche eingelaufen. Wie klein und schmal die hier alle sind. Komme mir im wahrsten Sinne des Wortes wieder mal wie ein Elefant auf einem Dreirad vor. Das Amaturenbrett ist schnell erklärt, denn keine der Anzeigen funktioniert mehr, was ich zugegebenermaßen toll finde, so lenkt nichts von dem wahnsinnigen Verkehrselisium ab. Durch mein schläfriges Ohr dringt plötzlich, einem Überschallgeschoss gleich, der flüchtig in der Mittagshitze

hängende Satz, „There was a break.“ (Da war mal eine Bremse!) Selbiges Problem hatte ich vor Jahren schon mal im Dschungel von Vietnam. Da wurde ich mit einem alten Jeep, vermutlich späte amerikanische Kriegsbeute aus den 70er Jahren, durch den Dschungel nach My Son gefahren. Eine breite gewundene rote Waldpiste, die träge einen Hang hinauf führte. Rechts und links der Schneise standen etwa alle 100 Meter handgemalte Holzschilder mit der dezenten, aber für das Bleichgesicht durchaus verstörenden Aufschrift „Beware of landmines!“. Flüchtig wahrgenommen ja, aber erst wirklich beachtet, als ich am Steuer saß und sich herausstellte, dass das Bremspedal sich widerstandslos bis zum Anschlag durchtreten ließ. „Kein Problem“, grinste der Fahrer, „am Ende der Piste haben wir einen kleinen Erdhügel aufgeschüttet und die Handbremse funktioniert tadellos!“ Aha - hobi, hobi und Problem yok! Nun ja, eigentlich hat ja nur das Bleichgesicht ein Problem damit, für den Asiaten funktioniert diese schlichte Sicherheitslücke einfach durch eine Änderung des Systemprotokolls. Das Bleichgesicht würde sofort die Bremse reparieren lassen, damit das System Fahrzeug reibungslos funktioniert. Der Asiat ändert das System Verkehr, damit man die Bremse nicht zu reparieren braucht. Nun ja, schließlich sind wir ja fremd hier und wer wären wir, dass wir die zivilisatorischen Errungenschaften des Ostens in Frage stellen würden. Schließlich haben die in diesem Teil der Erde

bereits Porzellan in identischer Form produziert, während die Westfalen noch versucht haben, aufmüpfige Italiener an einer Erholungsreise nördlich des Teutoburger Waldes zu hindern. Also gibt es kein Zurück mehr. Der Motor wird mit einer Kurbel angeworfen, der Blechhaufen beginnt in seiner Gänze zu vibrieren, das Einkuppeln ist mühsam und hört sich an, als würden etliche Bahnwaggons aneinanderprallen. Wie sagt der Engländer immer so schön: „Here comes the piece of cake!“ Motordreirad zu fahren ist echt eine Herausforderung, vor allen Dingen die Kurven ohne die schöne Zweiradkurvenlage. Meine Prallelkarriere als Taxifahrer in Pyay ist nach wenigen Kilometern beendet, und ich glaube, der Schweißfilm unseres Fahrers rührt nicht von der stetig steigenden Luftfeuchtigkeit her. Die Filmaufnahmen über diese Episode „By any means“ liegen bis heute unter Verschluss, wären sie doch gar zu peinlich für mein Motorradfahrerimage. Obwohl es kruzfristig nicht so aussah, erreichen wir die Bawbawgyipagode lebend. Das des burmesischischen nicht mächtige Bleichgesicht artikuliert den Namen der altehrwürdigen Bawbawgyipagod respektlos eher so wie „Baubaujipagode“. Also ganz im Ernst, ich habe es wirklich versucht, aber unser Fahrer presst die burmesischen Worte in einem ungeahnten Tempo zwischen seinen Lippen hervor und produziert im gleichen Moment lufteinsaugende und luftausstoßende Zischlaute, die mich an meinen ersten

Wasserkessel in der Studenten WG erinnern. Die Pagode erhebt sich majestätisch auf meheren runden Sockeln als massiver Backsteinkonus, dessen Spitze mit einer ziemlich verrosteten Krone verziert ist. Wie das Ding auf der Spitze der Pagode heißt, weiß ich nicht mehr, aber interessanterweise ist sie nicht vergoldet und das in einem Land, wo es schon als Sakrileg gilt, wenn an einer Pagode ein quadratzentimergroßes Stück Blattgold abblättert. Insgesamt ist die Pagode sehr schmucklos, dennoch wurde an der Basis, oberhalb des letzten Sockels, rundum eine goldgelbes Tuch gespannt. Warum vermag ich nicht zu sagen, denn es gibt keinerlei Gedenktafeln geschweige denn irgendwelche Hinweise für etwaige Besucher.


Sri Ksetra war wohl ursprünglich mal gut 15 Quadratkilometer groß, so dass die übrig gebliebenen Tempel weit verstreut zwischen den parzellenartigen Reisfeldern und kleinen Dörfern verstreut liegen. Die Tempel sind allesamt leer und auch eher schmucklos. Nur hier und da künden sich an den bröckeligen Fassaden, sperrig aus dem gebrannten Ziegelstein herausgearbeitet, die ersten Formtendenzen an, die sich später, vermischt mit indischen Bauprinzipien, in ganz Südostasien an Pagoden und Tempeln wiederfinden lassen. Auch wenn die alten Steine ganz schön alt sind und an ihnen natürlich der vergängliche Staub wichtiger historischer Ereignisse klebt, sind sie einfach nur rotbraun gebrannte Steinhaufen, die unspektakulär in der Gegend rumstehen. Dennoch sind wir uns beide einig, dass der Trip unfassbar interessant gewesen ist. Nicht nur wegen der tollen Erklärungen unseres Fahrers, den unser Manager im Pangabars nicht zu unrecht angepriesen hat, war es ungemein spannend, sondern der tiefe Einblick in die dörfliche Lebenskultur der burmesischen Reisbauern war faszinierend für uns.

Zurück in Pyay, die schwüle Feuchte und der Regen haben für heute nachgelassen und tauchen die ganze Stadt in goldenes Licht. Wir beschließen, das nächst beste Restaurant am Wegesrand mit unserer Internationalität zu beehren und landen in einer proppenvollen offenen Kaschemme am Irawaddy, Riverfront sozusagen. Das Essen muss gut sein, denn der Laden platzt aus allen Nähten. Natürlich stürzen wir unseren Gastgeber in ähnliche Peinlichkeiten, wie am Abend zuvor. Kein Menü, niemand der Englisch spricht, aber alle Lächeln uns um die Wette an. Im Gegensatz zum gestrigen Abend sind wir nur noch mäßig interessant, hat sich wahrscheinlich rumgesprochen, dass Bleichgesichter in der Stadt sind. Flurfunk funktioniert immer, vermutlich wissen auch schon alle, dass wir in Sri Ksetra waren und das mein erster Dreiradritt ein völliges Fiasko war, zumindest im Hinblick auf die Fahrstilnote. Der Besitzer bittet mich, einen Blick in die Küche zu werfen und am Topf zu wählen. Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen und schon stehe ich unter dem prüfenden Blick des gesamten Restaurants in der offenen Küche. Fühle, dass dieser Augenblick über Leben und Tod in Pyay (klingt ein bisschen, wir ein Titel von Hemingway) entscheidet. Also schmettere ich eine fröhlich burmesisch-deutsche Begrüßung hin, ernte Gelächter, wohlwollendes wohl bemerkt und das Leben geht weiter. Von da an ist unsere Begrüßung in diesem Land des wahrlichen Lächelns immer gleich: „Mingalarba Mädels!“ Die Damen, ganz Herrscherinnen über ihr Königreich, grinsen mich unsicher an, was mich verunsichert und winken mich an die Batterie der asiatischen Gulaschkanonen. Also, nichts wie ran an die Bouletten, wie der Horst Koslowski anne Bude immer sacht und mir werden großherzig Türen und Töpfe geöffnet. Tja, nun würde ich gerne erzählen, dass ich mich mit der Nouvelle Cuisine Burmas konfrontiert sah, aber die schlichte und harte Wahrheit war, dass alle Pötte selbiges Gericht enthielten. Da aber die gesamte Kneipenbelegschaft futtert, als gäbe es kein Morgen, bestelle ich zwei Portionen burmesisches Irgendwas und wir begeben uns in Lukullus Hände. Während wir der Köstlichkeiten harren, hängen wir beiden unseren Gedanken an diesem Tag nach. Das Flussbett des Irrawaddys ist randvoll und die Wassermassen, die zum Golf von Bengalen streben, halten die kleinen Holzboote und Lastschiffe, die versuchen flussaufwärts zu schippern,


scheinbar auf der Stelle. Ein leichter Wind weht von den Hügeln herab, die Pyay umgeben, und das Licht bekommt eine eigentümliche Körnung, die eine größere Farbtiefe zu erzeugen scheint. In meinen Gedanken tauchen immer wieder die Bilder der Menschen in den kleinen Dörfern von Sri Ksetra auf. An Annis Blick sehe ich, dass sie ähnliche Gedanken hegt. Wie weit ist doch das Leben dieser Menschen von unserem entfernt! In den Dörfern begegnen wir alten Männern, die scheinbar ziellos umher wandern, Gruppen von Frauen, die Gefäße auf ihren Köpfen balancieren und junge, ziemlich ausgemergelte, sehnige Burschen, deren Weg in ein Leben durch den elterlichen Stand vorgezeichnet ist. Manchen Blick können wir, neben dem scheinbar allgegenwärtigen Lächeln, nicht deuten. Besonders diese jungen Männer haben eine unsichtbare Distanz zu uns, deren Aura Stolz aber auch Vorurteil (Meine Entschuldigung an dieser Stelle an Jane Austen für die banale Verunglimpfung ihres Klassikers!) verheißen können. Vielerorts spielen Kinder auf den ausgefurchten Pisten des Dorfes, kindliches Gelächter schallt zu uns herüber, manch Erwachsener mustert uns mit harmloser Neugierde, winkt und wendet sich wieder seiner Arbeit zu, die zu hundert Prozent aus Handwerk besteht. Ein sanfter Friede liegt über dieser Landschaft, trotz der ärmlichen Verhältnisse und der scheinbar tiefsten provinziellen Naivität, strahlt hier eher das Glück. Zumindest so unsere Momentaufnahme. Vielleicht werden unsere besitzgeprägten, hochzivilisierten materiellen Wünsche und unser komplexes Streben nach harmonischer Perfektion von der rückständigen Einfachheit des hiesigen Lebens in Sachen Glück geschlagen? Vielleicht generiert diese Rückständigkeit den Verzicht auf, wie nennt Graham Greene es, „den angeschwemmten Plunder eines Lebens“, dass hier vielmehr gelacht wird? Natürlich kann es auch sein, dass nach Jahren der Unterdrückung und angestrebten Monotonie gleichmachender politischer Lebenskonzepte, das Lächeln und die Ruhe ein Katalysator für die dunklen Stunden der Tyrannei sind. Wer weiß das schon. Trotz der etwas unspektakulären und eintönigen Kultur, empfinden wir den Besuch von Sri Ksetra als in höchstem Maße interessant und werden jedem Burmareisenden Sri Kstera ans Herz legen. Eigentlich haben wir während unseres gesamten Pyayaufenthaltes keine anderen Bleichgesichter gesehen, vermutlich sind alle so darauf erpicht, nach Bagan zu kommen, dass die weniger eloquenten Ziele und Etappen unter den jeweiligen Reisetisch fallen.

Für die goldene Stunde des frühen Abends haben wir noch unseren Pagodenbesuch auf dem Programm. Nun sind wir erst wenige Tage hier in Myanmar und die Fülle an vergoldeten Pagoden ist erstaunlich. Jedes noch so kleine Kuhkaff hat so ein weithin sichtbares goldglänzendes Türmchen, fast so wie jedes westfälische Dörchen einen Sandsteinkirchtum sein Eigen nennt. Über die Herkunft des vielen Blattgolds möchte ich mir eigentlich keine Gedanken machen, da manche Dörfer entlang der Eisenbahnlinie so ärmlich erscheinen und die Pagoden derartig aufpoliert sind, dass entweder die versammelte Dorfgemeinschaft kollektiv im Lotto gewonnen hat oder die Menschen buchstäblich ihr letztes Hemd dafür geopfert haben. Da Pyay anscheinend keine wirkliche Touristenmetropole zu sein scheint, müssen wir auch auf den Luxus von Rolltreppen, welche in Rangoon die Menschen auf den Pagodenhügel des Shwedagon hievt verzichten. Wir latschen also im feuchtwarmen Streulicht die schnöden Treppenstufen zur goldigen Shwesandawpagode empor, die direkt am Eingang des Aufzuges enden. Den Überblick über die Namen aller bereits gesehenen Pagoden wird für mein schlichtes Männerhirn ein zunehmendes Problem, da alle Namen dieser architektonischen Frömmeleien mit „Shwe“ anfangen. Shwedagon, Shwesandaw (die gibts nicht nur in Pyay, sondern auch namensidentisch in Bagan), Shwezigon, .... Überhaupt scheint in der burmesischen Sprache die Silbe „Shwe“ irgendwie wichtig zu sein. Wo immer man die burmesische Blümchenschrift in lateinischen Lettern übersetzt findet, gibts auch sofort einen Haufen an „Shwes“. Werde für den geneigten Leser versuchen, strukturelle Merkhilfen zu generieren, damit sich nicht die sakrale Verwirrung breitmacht, die uns hier mehrfach täglich zu hilflosen Kopfkratzgesten zwingt.


Natürlich ist die Pagode wiedermal um ein Haar von Buddha herumgebaut. Also jetzt nicht verwirrt sein, die Pagode ist nicht um ein Haar von Buddha gebaut worden, sondern der Kerl hatte hier fulminanten Haarausfall. Ein Löckchen blieb irgendwo kleben. Alle Anwesenden wurden einer Spontanerleuchtung unterzogen und schwupps, schon wurden burmesische Dukaten flach gedengelt, um den spirituellen Fingerhut mit Goldfolie zu bekleben. Hobi, hobi - sage ich neuerdings in solchen Fällen. Der Laden hat einfach alles, was in diesen Breiten so von einer sakral-göttlichen Backs erwartet wird. Beginnen wir mal mit dem Löckchen von Buddhas Haupt. Verständlicherweise sind natürlich deshalb alle buddhistischen Mönche kahl, um dem Vorbild des Herrn und Meisters nachzueifern. Nun ja, wie soll ich sagen, der erleuchte kahle Schädel hat in ganz Südostasien eine breite Spur physischer Devotionalien hinterlassen. Als ich mal in Phom Phen war, lieber Leser, stolperte ich über einen Fußabdruck Buddhas, dessen schiere Größe vermutlich so zwischen 48 und 49 lag und dem religiösen Harderer in mir höchst zweifelhaft erschien. Wenn man als kulturoffenes Bleichgesicht so zweckfrei in einem laotischen Kaffeehaus oder einer kambodschanischen Teestube rumlungert, fällt auf, dass kein Mann östlich von Kalkutta und westlich von Kanton längere Füße als Schuhgröße 39.5 hat. Wenn wir jetzt noch alle seine Haare aufaddieren, die in irgendwelchen Reliquienschreinen verschiedenster asiatischen Tempel, Stupas und Pagoden kleinlichst gehegt und gepflegt werden, muss er mehr Körperbehaarung gehabt haben, als mein Pferd. Die neuronalen Netze im Kopf des Designers visualisieren natürlich in Windeseile alle Fakten zu seinem Gesamtbild, und so lande ich bei meiner Vorstellung von Buddha bei einem überlebensgroßen behaarten L. Was soll ich sagen? Irgendwo im Grenzgebiet des nepalesisch-tibetischen Hochlandes soll ein Handabdruck von Buddha existieren, hab ich gehört. Hoffe, der hat Normalgröße, sonst müssen die Ästhetiksynapsen meines Gehirns zu dem überaus behaarten L noch übergroße Hände hinzuvisualisieren... Was ein Anblick, wenn der geneigte Laser mir folgen kann. Andererseits sind die Asiaten überwiegend spirituell tolerant, warum sollte also ein behaartes L mit großen Pranken nicht auch erleuchtet werden können. Hobi, hobi!

Neben den heiligen Haaren, nein falsch, neben dem heiligen Haar gibt es natürlich auch einen 30 Meter hohen Buddha mit goldgelber Robe und schneeweißer Porzellanhaut. Die Statue wurde etwas tiefer am Fuße des Tempelberges platziert, sodass man vom spirituellen Sonnendeck aus mit dem Erleuchteten auf Augenhöhe ist. Ich sowieso, da alle auf meine weiße Porzellanhaut gaffen und natürlich liegt da die Erleuchtetennähe einfach auf der Hand. Es gibt zahllose Untertempel, vergoldet oder vorbereitet zur Vergoldung, Schreine, unzählige Buddhafiguren, liegend, stehend, sitzend. Außerdem hat man einen tollen Blick über das abendliche Pyay, den wir ausgiebigst genießen, ist die Anlage doch nahezu leer. Die Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne taucht alles in weiches, goldfarbenes Licht und im Gegensatz zu der quirligen, ja beinahe schon religiös-amtlichen Stimmung im Shwedagonbezirk, liegt hier tiefster Frieden über dem Hause Buddhas.

Damit ist es schlagartig vorbei, als wir einer burmesischen Familie in die Arme laufen, die, bewaffnet mit zwei identische gekleideten Buben sind, und darüber hinaus auch über ein Handy verfügen. Der Selfiemarathon beginnt und Annis Anwesenheit gerät zum kindertechnischen Schaulaufen für diverse Familien, die in der Stille des Abends im Tempel spazieren gehen. In kürzester Zeit entsteht ein Auflauf und Handy um Handy wird gezückt, als gäbe es nie wieder ein Bleichgesicht in Burma zu sehen. Irgendwie ist der Selfiewahn der Burmesen aber anders, als in anderen Ländern. Vermutlich liegt es an ihrer digitalen Unschuld und dem gerade Erwachen des elek- tronischen Drachens in seiner Höhle, von denen sie noch gar nicht wissen, dass man ihn vermutlich nie wieder einsperren kann.
