Alltag in Japan . . .
- Ingo
- 26. Juli
- 7 Min. Lesezeit
Depesche 09 - 26.07.2025 - Von Shiojiri nach Takayama

Wer kennt das nicht. Man steht an der Ausfahrtsschranke des Parkhauses, will ein Geldstück in den Automaten werfen, die Münze verkantet - aus Hektik, Stress oder einfach nur physischer Unfähigkeit heraus und fällt runter. Aussteigen geht nicht, weil man zu eng am Ausfahrtsautomaten gehalten hat. Zurücksetzen geht nicht, weil bereits der teutonische Ungeduldsgnom Besitz von den Hinterfahrern genommen hat. Das Geld ist futsch und natürlich hat man genau in diesem Moment - das ist der, wo das Hupkonzert losgeht - nicht mehr das passende Kleingeld dabei. Da der Automat nicht wechselt und gar überhaupt keine Scheine nimmt, ist das Dilemma perfekt . . .



Das passiert in Japan nicht. An jedwedem Münzeinwurf ist der Einwurfschlitz so geformt, dass das Geldstück einfach nicht runterfallen kann. Was soll ich sagen. Ich würde ja nicht so weit gehen und konstatieren, dass hier alles besser ist, aber was sich so nach einer Woche auf jeden Fall sagen lässt, ist, dass hier weiter gedacht wird, um alltägliche Abläufe zu perfektionieren. Nehmen wir da mal die öffentlichen Toiletten. Nach gut einer Woche kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich noch keine schmutzige öffentliche Toilette gesehen habe. Ist vielleicht nicht überaus aussagekräftig, aber immerhin ein ganz passabler Querschnitt. Unglaublich - egal, ob die Örtlichkeiten alt oder baulich nagelneu sind - es ist immer alles wie geleckt! Wir sprechen hier so über WCs, die in permanentere Benutzung sind. Bei uns unvorstellbar - selbst, wenn eine Reinigungskraft permanent daneben sitzt, trifft der Teutone nicht immer ins Ziel. Hier undenkbar. Wo diese Disziplin herkommt, fragen wir uns schon die ganze Zeit. Wahrscheinlich ist die öffentliche Ächtung so massiv, dass es als Abschreckung reicht, aus dem sozialen Kontext Repressalien zu bekommen. Das lasse ich mal so umkommentiert stehen. Heute morgen kam ich aus dem Waschraum und wunderte mich über ein Holzgestell, dass ich gar nicht verorten konnte, so im Hinblick auf seine Funktion. Bis ein Rennradfahrer angeradelt kam und sein Fahrrad an der Spitze des langezogenen Fahrradsitzes aufhängte. Klasse. Hat mich wirklich beeindruckt. Ob diese ganzen kleinen, aber feinen Alltagsvereinfachungen alle auf dem Mist der Japaner gewachsen sind, wage ich zu bezweifeln. Doch sie denken hier schon ziemlich an ihre Mitbürger.


Wir sind heute Abend wieder auf einem Michi no Ski gelandet. Die Toiletten sind der Kracher. Neben der üblichen Batterie an Hygieneknöppen und möglichen Musikeinstellungen, gibt es sogar einen Abzugsknopf für Blinde, mit einem reliefgeformten Strudel darauf, sowie eine Beschriftung in Brailleschrift. Was soll ich sagen - so in Anbetracht dieses alltäglichen Dienstleistungsgedankens für die eigenen Mitbürger . . . Die Urinale - der geneigte Leser verzeiht mir das gänzlich untouristische Thema - reichen bis auf den Boden - so für den Fall, dass ein hiesiger Kevin wieder mal Mamas Erziehung vergisst und das Ziel nicht trifft. Ist so praktisch unmöglich. Auf den Herren WCs hängen - völlig normal hier - Babystühle, in denen die eigene Brut sicher verwahrt werden kann, wenn man selbst mal auf den Boiler muss. Meistens gibt es auch noch eine Ankleidevorrichtung, damit man ggf eine Reisetasche nicht auf den Boden stellen muss . . . Wirklich irre, was für ein Servicegedanke. Als wir heute getankt haben, wurden gleichzeitig alle Fenster und Außenspiegel gereinigt. Ohne Aufpreis. Trinkgeld ist in Japan nicht Usus, es gilt eher als beleidigend, denn schließlich ist das korrekte Erfüllen der eigenen Tätigkeit eine Tugend. Tja, hier ist Diskussionsbedarf denke ich! Bevor und nach Einrichtung einer Straßenbaustelle wird ein Schild aufgestellt, mit dem Piktogramm eines sich verbeugenden Bauarbeiters. Wo gibt es denn das, bitte schön? Höflichkeit und respektvoller Umgang wird hier riesig groß geschrieben.



Auf 23 Japaner kommt ein Automat. Das ist Fakt! Und, Automaten stehen überall, in Dörfern, Klein-, sowie Großstädten, an Bahnhöfen, in öffentlichen Gebäuden, eigentlich überall. Getränke in Flachen und Dosen, ja bis hin zu gesamten Menüs, Milch, Eier, Gemüse, automatisch applizierte Panzergläser auf Handys aufziehen, es gibt faktisch nichts, was nicht irgendwie ein Automat erledigt. Und, dabei waren wir ja noch gar nicht so richtig in einer Metropole. Bin gespannt, was da alles an techn Ischen Spielereien alles auf uns wartet. Das einzige Thema, was uns wiederum ziemlich erstaunt, ist das Thema Müllentsorgung. In Nikko, gab es in der historischen Anlage keinen einzigen Mülleimer. Lediglich dort, wo die Automaten stehen, gibt es einen Mülleimer, wo jedoch ausschließlich der Abfall aus Automatenprodukten hineingeworfen werden soll. Aha, so so. Darüber hinaus stand da - in einem ziemlich klaren Imperativ geschrieben - „Nehmen Sie ihren Müll mit nach Hause!“ Nirgendwo in den Städten kann man seinen Müll entsorgen, denn es gibt schlichtweg keine Mülleimer. Man kann bspw. seine Verpackungen und leeren Flaschen wieder dort abgeben - 7/11, Family Mart, Lawson, … - wo man das Produkt gekauft hat. Das ist wirklich seltsam, denn außerdem liegt nie irgendwas rum. Das ist wirklich sehr sonderbar. Vermutlich ist Entsorgung hier so teuer, dass die öffentliche Hand einfach nicht dafür aufkommen will, wer weiß das schon.
So, nun sitzen wir hier auf dem Michi no eki westlich von Takayama und schauen auf die riesigen Überlandleitungen, die sich malerisch als Schattenriss vor dem Sonnenuntergang auf dem Himmel abzeichnen. Strom ist ein Thema hier. Überall hats Stromleitungen in Hülle und Fülle. Nirgends Erdleitungen, alles überirdisch. Und Japan braucht elendig viel Strom. Alles ist automatisiert, tiefgekühlt, beleuchtet - ob zu Werbezwecken oder aus Sicherheitsgründen, überall gibt es auditive Warnsignale, Sprachdurchsagen oder auch zu letzt eine unendliche Zahl an stromziehenden Peripheriegeräten, wie bspw. akkubetriebene Ventilationswesten für Menschen, die bei diesen Temperaturen permanent in der Sonne stehen. Da Japan aber ein unbedingtes Erdbebenland ist, werden einfach aus logistischen Gründen keine Erdleitungen verlegt, um eine schnelle Stromversorgung nach Erdbebenschäden zu gewährleisten . . . Klingt ja doch sehr durchdacht alles - außer für den Fotografen, der immer irgend ein Kabel vor den tollsten Motiven rumhängen hat. Was soll ich sagen.



Ausnahmsweise heute mal nicht vor der Burg von Matsumoto. Wir sind früh raus - der geneigte Leser erinnert sich - Morgens Sonne, gegen frühen Nachmittag Gewitter und Regen, dann goldene Abendstunde. Also sind wir schon kurz vor 8 Uhr am Schloss von Matsumoto. Natürlich hat es noch geschlossen, doch wir müssen über die Berge und bei Tempo 40 kann das dauern. Zumal wir die romantischen Strecken nehmen wollen, so Serpentinen rauf bis 2000 Meter und so, anstelle des langweiligen Expresshighways, der auch noch wucherartig teuer ist! Das Schloss sieht ein bisschen verdächtig so aus wie Takeshis Castle, für alle, die mein Baujahr sind. Anfang des 16. Jahrhunderts gebaut, hat alle Irrungen und Wirkungen der Zeit überstanden und ist heute sehr schön restauriert anzuschauen. Wie es da so malerisch in der Morgensonne liegt. Die Einheimischen nennen es auch die Krähenburg, da die Holzflächen an den Außenwänden alle schwarzgestrichen wurden. In Verbindung mit den geschwungenen, flügelgleichen Dachkonstruktionen, entstand der Krähenspitznahme. Aus Zeitgründen gönnen wir uns eher einen ausgedehnten Spaziergang um die Burg, als einen hektischen Kurzbesuch und anschließendes Abhetzen auf den engen Straßen.


Und so gondeln wir wieder entspannt in die Berge, folgenden den kleinen, kurvigen Straßen, durch etliche Tunnel, bis wir zur Kreuzung mit dem Expresshighway nach Takayama kommen. Die Straße, die wir nehmen wollen, ist nur von Mai bis September geöffnet, dann setzt das schlechte Wetter ein und die schmale Passstraße ist unpassierbar. Nun ja, die Straße ist eigentlich jetzt auch unpassierbar. Einspurig, mit zerschlissenem Asphalt, ist die "Straße“ an den Rändern, Belag und Fundament nur noch marode und ungenügend gesichert. Einzig die Parabolspiegel am Anfang und Ende einer jeden Serpentine, ermöglicht ein halbwegs gefahrloses Bergauffahren. Stellenweise halb zugewachsen und mit abgesacktem Belag, kämpfen wir eigentlich nur mit den anderen Autofahrern, die gnadenlos den Berg rauf und runter kacheln. Doch die Aussicht in die tiefen Täler und kargen Bergspitzen, die hier und da noch Schneefelder haben, ist wunderschön und belohnt für die etwas nervenaufreibende Fahrt. Auf der anderen Seite des






Berges landen wir in sanft hügeligen Tälern, in denen Gemüse- und Reisanbau betrieben wird und die Menschen noch in eher traditionellen Häusern leben. Dort halten wir vor einem traditionellem Gasthof an, vor dessen niedrigem Eingang indigoblaue Noren leise im Wind flattern. Gott sei Dank gibt es richtige Tische und traditionelle Hockerei. Wir nehmen natürlich einen richtigen Tisch, denn irgendwie bin ich nicht für stundenlanges Hocken beim Essen gemacht. Meine Knie klingen inzwischen darüber hinaus auch immer wie ein prasselndes Kaminfeuer. Es gibt ein übersichtliches Menü, aus warmen Suppen oder kalten Nudeln und ein paar Getränke. Da Anni kein alkoholfreies Bier aus der Dose möchte, nimmt sie wagemutig einen „japanese carbonated juice“, was auch immer das ist. Natürlich schmeckt der Saft wie destilliertes Kaugummi - mit Kohlensäure. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Die Ramen sind super köstlich und gestärkt geht es weiter nach Takayama, wo wir als erstes einen Rastplatz suchen.


„Vorsicht Bären“, steht da auf einem Hinweis. Aha, so so! Es gibt noch einen weiteren Rastplatz, der hat auch nur Toiletten und zusätzlich Restaurationen. Da ist die Wahl nicht ganz einfach - der erstere hat Klo und Bären, der andere Klo und Futter . . . Hmmmm. Gut, wir vertagen die schwierige Entscheidung und machen uns auf nach Takayama City. Das Sanmachi-Viertel ist das Herzstück Takayamas. Mit seinen erhaltenen Kaufmannshäusern aus der Edo-Zeit, zieht es Touristen aus dem In- und Ausland an, so viel ist mal sicher. Zugegebenerweise sind wir etwas geschockt, als wir uns ins Sanmachi-Viertel aufmachen. Es ist voller Touristen - Japaner, Chinesen, Europäer . . . Ungewohnt für uns, da wir uns ja seit einer Woche eher in der Einsamkeit herumgetrieben haben. So ist unser Besuch in Takayama, unsere erste richtige Städteerkundung in Japan. Die gut erhaltene Altstadt von Takayama würde uns bis auf äußerste faszinieren, wenn wir nicht gestern schon - quasi allein - eine Zeitreise in die Edo-Zeit in Narai-juku gemacht hätten. Takayama ist gut von Kyoto und Tokyo zu erreichen, was die Dichte an Westtouristen





erklärt. An dieser Stelle möchte ich mich jetzt schon für meine Kleidungsbewertungen der mitreisenden Amis und Europäer entschuldigen, vielmehr für meine Intoleranz gegenüber halbbekleideten Italienerinnen und Holländerinnen. Doch ich muss das hier mal loswerden. Schulterfrei, baufrei, Miniröcke, die kaum breiter sind als ein Gürtel, sind in Japan überhaupt nicht gern gesehen und werden als hochgradig despektierlich gegenüber den Japanern empfunden, beim Besuch von buddhistischen Tempeln mal ganz zu schweigen. Möchte nicht wissen, was die Schweizer Garde macht, wenn eine halbnackte Japanerin so in den Petersdom gehen wollte, wie hier die westlichen Damen in buddhistische Heiligtümer. Wie gesagt, steht bereits auf Seite 3 in jedem Reiseführer . . . Wen wundert es da, wenn ganze Stadtviertel in Kyoto für internationale Touristen geschlossen werden, weil man nicht in der Lage ist, sich respektvoll im Land zu bewegen. Gut, das wars jetzt mit der allgemeinen Tourischelte! Verspreche, dass ich mich da zukünftig textuell zurückhalte. Also, es ist voll, denn die pittoresken Kaufmannshäuser säumen ganze Straßenzüge, in denen es Souvenirs, lokales Kunsthandwerk zu kaufen gibt, regionalen Tee zu probieren und lokale Spezialitäten zu genießen. Im und um das Sanmachi-Viertel befinden sich außerdem mehrere Sake-Brauereien, in denen sich die Massen um die kleinen Probierportionen schieben, und, und, und . . .
Die Altstadt ist wirklich schön und sehenswert. Doch irgendwann schlendern wir in den Tempelbezirk, der mit mehreren traditionellen Schreinen, Glockentürmen und Toren am nördlichen Rand Takayamas liegt. Während wir da so durch die sehr gepflegten Anlagen laufen, erscheint mir unser gestriger Tag irgendwie unendlich wertvoll, weil wir mit so viel Ruhe, Entschleunigung und - nahezu alleine - diese Edo-Zeitreise unternehmen durften. Konbanwa folks!