Alle Züge fahren nach Mandalay . . .
- Ingo
- 1. Juni
- 13 Min. Lesezeit
Depesche 02 - nach Pyay - 2016

Es ist 6 Uhr, jawohl und wir stehen an erster Stelle am Ticketschalter. Das ist in Asien nun wirklich gar nicht normal und schon gar nicht für ein reisewilliges Bleichgesicht. Geschafft, ohne das übliche, für das Bleichgesicht entwürdigende, asiatische Gedränge. Der geneigte Leser darf sich jetzt keine falsche Vorstellung von einem alltäglichen, ja nahezu normalen asiatischen Gedränge machen. In erster Linie exisitert die vornehme europäische Komfortzone in Asien nicht, mit der darüber hinaus auch eine gewisse zurückhaltende Bescheidenheit einhergeht. Dafür hat der Asiat als solches schon mal gar kein Verständnis, denn wer wäre denn so blöd, bei einer lausigen feuchten Hitzenei länger in der Masse herum zu lungern als nötig - geradezu lachhaft! Das Entwürdigende an der Situation „asiatisches Gedränge“ liegt für das weitgereiste Bleichgesicht in einer soziokulturellen und einer physischen Komponente begründet. Obwohl ich die Tshirtgröße M trage, jawohl M, bin ich östlich von Wien in der Regel einen Kopf größer als der durchschnittle Mensch des vorderen und hinteren Orients. Der geneigte Leser stelle

sich jetzt das wundervolle Gemälde eines verschwitzten, rotverbrannten und rotbärtigen Bleichgesichts vor, dessen dümmlicher Gesichtausdruck weithin sichtbar für jeden Eingeborenen oberhalb der wogenen See schwarzer Haare leuchtet. Wärend sich die wogende Masse schwarzer Haare mit den darunter befindlichen Menschen zielstrebig auf Ticketschalter, Marktstände, Taxen, Zug-, Bus- oder Tuktukeinstiege zubewegt, wird selbiges vornehm-höflich zurückhaltende rotgesichtiges Bleichgesicht von den Schwarzhaarmassen umflossen, wie ein Fels von der brandenden Gischt. Natürlich haben mindestens 25 Eingeborene, die vormals in der Schlange hinter dem

Bleichgesicht standen, bereits ihre Heimatdörfer erreicht, bevor der bleiche Reisende seine Ticketfrage überhaupt geklärt hat. Wirklich entwürdigend! Dazu kommt, dass man sich trotzdem - selbst bei einem altersbezogenen perfekten Bodymaß-Index - immer wie ein Elefant in einer Mäuseherde vorkommt, und das trotz der Tshirtgröße M! Nun ja, heute morgen haben wir es geschafft! Lehne lässig am Ticketschalter, bereit die tickettechnische Pooleposition bis aufs Blut zu verteidigen, jawohl, bin ja schließlich kein Reiseanfänger! Zwischen mich und den Ticketverkäufer wird kein Miniaturdrängler kommen. Nein, absolut nicht! Niemand. Kann auch nicht, denn außer uns ist niemand am Bahnhof. Kein Mensch weit und breit! Frechheit, wir sind hier um Abenteuer zu erleben und jetzt das. Nicht mal zwei einsame Gestalten, die versuchen sich vorzudrängeln, ja nicht mal einer. Was ist nur los mit diesem Land? Achselzuckend schaue ich Anni an, die ich um 4:30 Uhr aus dem Bett gescheucht habe: Packen, vorbereiten, ca. 15 Stunden Zugfahrt bis Pyay, ohne Frühstück zum Ticketschalter, denn nur wer ein Ticket hat, ist der Woody


Guthrie der Royal Burmese Railway. Ernte von Anni einen müden und leicht spöttischen Blick - Indiana Jones .....von wegen. Nichts, nicht mal der Zugang zum Bahnsteig ist geöffnet. Neben dem geschlossenen Eingang zum Gleis ist ein Tisch mit einer gemusterten Wachstischdecke aufgebaut und in etwa 2 Meter Höhe hängt ein amtlicher Messinghinweis „Complaint Center“. Habe eine massive Beschwerde - wo ist das versprochene asiatische Gedränge bitte schön. Los wollt ihr wohl endlich drängeln! Aber meine Beschwerde verhallt ungehört im amtlichen Orbit und ich bin maulig. Wo ist das Abenteuer, von dem ich daheim berichten kann, um Mitleid und Bewunderung zu ernten. Ein unamtlich aussehender Amtlicher in nachlässiger amtlicher Kleidung schlurft gähnend an uns vorbei, glotzt uns entsetzt an, tippt auf seinen amtlichen Zeitmesser und gibt uns zu verstehen, dass der Bahnhof überhaupt erst amtlich um 7 Uhr öffnet und wann der amtliche Ticketschalter öffnet, scheint sich völlig seiner amtlichen Kenntnis zu entziehen....

Also setzen wir uns vor das Bahnhofsgebäude, denn dort gibt es in Asien immer soziokulturelles Rahmenprogramm. Aber in Rangoon ist man laid back, denn auch dort gibt es keine Menschen außer uns. So studieren wir aufmerksam den amtlichen Fahrplan. Es ist ein bisschen wie im Museum, man sitzt gemütlich vor der Rembrandtschen Nachtwache, studiert die geniale Linienführung des Meisters, seinen nahezu vollkomenen Umgang mit Licht und Schatten, die Komposition der Figuren und versucht dann, das malerische Gesamtkonzept zu erfassen. Ähnlich ergeht es uns auch bei den im Fahrplan ausgewiesenen Ab- und Ankunftszeiten der Royal Burmese Railway. Man studiert die Linienführung des Meisters, seinen nahezu vollkomenen Umgang mit Licht und Schatten, die Komposition der Figuren und versucht dann, das malerische Gesamtkonzept zu erfassen... Bringt uns leider nix, denn alles in Allem können wir nix lesen, nix verstehen und überhaupt gar nix machen. Der Fahrplan ist vollständig in - zugegebener Weise - wunderschöner burmesischer Blümchenschrift. Leider fehlen die tourisentechnischen englischen Untertitel und damit wissen wir nicht, ob es überhaupt einen Zug Richtung Pyay und weiter nach Bagan gibt. Also zurück zum Beobachtungsposten vor dem Bahnhof. Das erwachende Rangoon hat allerlei Rahmenprogramm zu bieten, hier laufen in frischem Rosa gewandete junge buddhistische Novitzinnen mit ihren großen Blechbettelschalen, dort eine typisch burmesische Restaurant-Ich-AG und natürlich die obligatorischen Basarhändler, die bei unserer verumlungernden Sitzposition schon fette Beute wittern.

Die durchschnittliche burmesische Gastro-Ich-AG ist recht einfach aufgestellt: Man nehme einen etwa 2,5 Meter langen robusten Bambusstab, kerbe die Enden und befestige jeweils daran mittels 3 Bindfäden eine Metall- oder Plastikschale - zur Not würde auch ein umgekehrter britischer Helm aus dem 1. Weltkrieg gehen. Die Bambusstange wird, zentriert auf den durchschnittlich 35 cm schmalen (von breit kann in diesem Land einfach keine Rede sein) Schultern eines männlichen Burmesen mit ernsthaften Karriere- und Aufstiegsabsichten positioniert, füge einen halbwiegenden Laufschritt auf der burmesischen Einheitslatsche hinzu und fertig ist das mobile Nudel-ICH-AG-Restaurant. In den angehängten Schalen - oder britischen Kolonialhelmen - werden nun allerlei Alltagsgegenstände transportiert oder befördert, je nachdem, ob bereits für den Kochtopf hergerichtet oder nur vorbereitet. Dazu kommen allerlei Kleinigkeiten, die man für die kulinarische Staffage seiner Lokalität so benötigt. Stapelbare Plastikhocker, stapelbare Kistchen und Kästen, in denen Stäbchen, Grillbesteck, der eigentliche Grill, Holzkohle, Kräuter, Frühlingszwiebeln, Gemüse, lebende oder ausgenommene Hühner, usw.. Alles gestemmt von nur 35 cm schmalen männlichen oder 30 cm schmalen weiblichen Schulterpartien. Wenn ich diese Lasten sehe, möchte ich mich keine Sekunde lang mit einer burmesischen Garküche selbstständig machen. Nein wirklich nicht. Während die unterschiedlichsten Menüausrichtungen in diesem, nicht rennenden und auch nicht gehenden, Wiegelauf an uns vorbei hoppeln, denke ich immer an unsere Berufsgenossenschaften, Arbeitssicherheitsverordnungen, usw.. Die BG-Prüfer würden sich hier vermutlich nicht nur die Haare raufen, sondern vermutlich sofort erstarren und leblos hinschlagen, im Hinblick auf diesen körperlichen Raubbau. Länge und Schwingen der Bambusstange in Verbindung mit den Longhi führt übrigens zu diesem seltsamen Geh-Lauf-Hüpf-Rhythmus.


Neben dem soziokulturellen Rahmenprogramm habe ich immer den Haupteingang im Auge behalten, um dem Ansturm der Massen entgegenzutreten und unser zeitlichbedingtes Recht auf die erste Ticketverkaufgsamtshandlung durchzusetzen. Um Punkt 7 Uhr begeben wir uns über den gähnend leeren Bahnhofsvorplatz in Richtung Ticketschalter. Eine vierreihige, gut zwanzig Meter lange schwarzhaarige Warteschlange wartet begierig darauf, dass der amtliche Ticketverkauf beginnt. Bin etwas perplex, denn die Frage ist, wo kommen aufeinmal diese ganzen reisewilligen Burmesen her. Na ja, in Anbetracht der durchschnittlichen burmesischen Körpergröße kann es natürlich sein, dass mein, noch nicht auf asiatische Dimensionen eingestelltes Auge, die Meute einfach nicht wahrgenommen hat. Vielleicht hatte aber auch mein Gehirn, in Anbetracht der Tageszeit, noch nicht die volle geistige Kapazität erlangt und einfach bestimmte Informationen nicht verarbeitet? Fragen über Fragen.

Der Ankauf eines Tickets ist in Asien und natürlich auch in Rangoon immer verbunden mit persönlicher Entwürdigung - neben der bereits erwähnten totalen Einbuße der persönlichen Komfortzone. Das reisegeneigte Bleichgesischt sieht sich in der Regel beim amtlichen Vorgang des Ticketerwerbs mit architektonischen Feinheiten konfrontiert, die häufig für Protosionen im 5./6. Nackenwirbel verantwortlich sind. Im Zuge der Errichtung eines Ticketschalters wurden und vermutlich werden immer noch bauliche Maßstäbe angesetzt, die die Körpergröße eines Homo Asiaticus des frühen Pleistozän zum Grundmuster haben. Der geneigte Leser stelle sich also einen 3 x 3 Meter großen Raum vor, umgeben von einer 1 m hohen Mauer auf dessen Abschluss sich ein 30cm breites Holzbrett befindet. Darüber wird eine käfigähnliche Konstruktion gebaut, bestehend aus 3cm starkem Rundstahlgitter. Eingelassen in diese Gitterstreben sind unmittelbar über dem Holz, je laufendem Meter, eine 10cm hohe und 20cm breite Durchreiche. Normalerweise könnte man ja nun normal durch das Gitter sein Begehr vorbringen und die amtlichen Dokumente durch die kleine Öffnung angereicht bekommen. Aber weit gefehlt, nun werden allerlei amtliche Bekanntmachungen in gedruckter, veralteter oder auch handschriftlicher Natur außen und innen auf den Gitterstäben platziert, unterstützt von zusätzlich angeschweißten Stahlstreben und transparent-erblindeten Kunststoffsichtblenden. Das eigentlich halbwegs sichtbare menschliche Wesen hinter der stählernen Amtsbarriere

schwindet nun auf wenige Quadratzentimeter zusammen und ist eigentlich ausschließlich durch die, auf 1,20 m positionierte Durchreiche erkennbar. Während der Asiate als solches sich nur leicht verneigen muss, ist das Bleichgesicht hingegen gezwungen, förmlich auf Knien vor der Durchreiche zu kauern und zu versuchen, durch einen schräg nach oben geneigten Blickwinkel Augenkontakt mit der natürlich höher sitzenden Amtsperson zu bekommen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass ich nahezu alle soziokulturellen Thesen zur asiatischen Verneigung im Hinblick auf zwischenmenschliche Höflichkeit mit dem Gegenüber strikt ablehne und statt dessen die weitaus wahrscheinlichere wissenschaftliche Meinung vertrete, die Höflichkeitsverneigung in diesem Erdteil ist eine ankonditionierte Kommunikationsform des Ticketverkaufs. Jawohl, so sieht es nämlich aus! Das 10cm mal 20cm große Durchreich-Kommunikationsloch wird nun zum verbalen und nonverbalen Nadelöhr toller Kommunikationserlebnisse und bietet reichlich Nahrung für den umfangreichen Erlebnisschatz des abenteuerhungrigen Bleichgesichts. Natürlich wird die Privatsphäre und der Datenschutz hier ganz groß geschrieben: Wenn das abgefertigte und auch so völlig fertige Bleichgesicht endlich seine Tickets in den schweißnassen zittrigen Händen hält, weiß der gesamte Bahnhof über Namen, Passnummern, Reiszielort, Herkunft, Geschlecht und vermutlich auch über Annis Körbchengröße Bescheid. Damit gibt es aber sowas von gar keinen Datenmissbrauch, denn wenn alle alles wissen, ist es eh uninteressant! Wie gesagt, es könnte alles so einfach sein. Wunder über Wunder des Orients.

Nach zähen Verhandlungen, dem mehrfachen (!) Wechsel des Amtspersonals, verschiedenen hastigen Skizzen meinerseits, dem Hinhalten von Landkarten, lachen alle im Ticketschalter herzlich über uns und es braucht ca. 9 Mitarbeiter der Royal Burmese Railway zur Erstellung der gewünschten Reisedokumente. Sämtliche Mitarbeiter drängen sich hinter den Erleuchteten, dessen Englisch zwar unverständlich, aber immerhin Englisch ist und beobachten genauestens die etwas zähen Verhandlungen. Die Jungs haben einfach ihren Arbeitsplatz verlassen und glotzen uns an, wie Marsmännchen nach einer Bruchlandung mit der fliegenden Untertasse. Schlimm ist das nicht, denn kein Burmese steht noch in seiner Schlange sondern hat sich zu den restlichen ca. 50 Schaulustigen gesellt, um die ungewöhnlichen Bleichgesichter zu bestaunen, die ausgerechnet mit der Bahn fahren wollen. So blöde kann auch nur ein Bleichgesicht sein, der Zug dauert 17 Std. für gut 500km, der AC Bus dauert 10 Stunden weniger. Nein wirklich dämlich. Mitleid steht im ein oder anderen Gesicht geschrieben, das sich zur reinen Fassungslosigkeit steigert, als bekannt wird, dass wir nur zweiter Klasse gebucht haben. Lachhaft! Jetzt sind wir unten durch, keine Frage. Mitleidige Blicke begleiten uns und mein trockener Hals unterstreicht noch das Gefühl ein Paria zu sein. Also nichts wie zum Frühstück.

Wir landen in einer angesagten burmesischen Frühstücksschmiede, zumindestens laut Reiseführer. Bin total relaxed, Gepäck und Tickets vorhanden, massig Zeit bis zur Abfahrt, Frühstück in unmittelbarer Erreichbarkeit und vermutlich gibts noch eine Pagode für das spirituelle Seelenheil auf der Reise zur nächsten Etappe. Ganz cosmopolit werden uns in diesem Fresstempel Plätze zugewiesen - eine dieser dusseligen amerikanischen Tischkulturen, die ich als total unkultiviert empfinde - der sich als ein Shan-Noodle-House entpuppt. Aber der Nudelschuppen ist so rappelvoll mit einheitlich beigen 3/4 Trekkinghosen und unterschiedlich farbig-karierten Kurzarmshirts verschiedenster Outdoorhersteller gleicher Machart, dass wir eh warten müssen, bis irgendwelche der elenden frühstücksversessenen Bleichgesichter sich bequemen zu gehen. Vermutlich haben wir alle den gleichen Reiseführer und der scheint morgens nur ein Restaurant zu empfehlen. Das Essen ist unfassbar lecker, auch unfassbar scharf, aber einfach lecker. Es gibt Shan-Nudeln, gebackene Wan Tans mit frischen Frühlingszwiebeln und kleine Porzellanschälchen mit diversen Sößchen. Normal mag ich scharfes Essen gar nicht, ich hab es schon lieber, wenn man nach dem Essen noch rudimentäre Wahrnehmungen in der Mundhöhle verzeichnen kann, denn wochenlangen Taubheitsgefühlen. Dieses vielgepriese ultrascharfe Essen und das „Aushalten“ selbiger verbrennungsanmutender Grenzerfahrung empfinde ich bei dem ein oder anderen Mitmenschen immer als kulinarischen Machismus. Der Vorteil leicht scharf gewürzter Speisen liegt jedoch darin, dass es bei mir einen unmittelbaren Schweißausbruch erzeugt, gefolgt von Hitzeschüben und Schüttelfrost, der den ersten Kuss eines 16jährigen Backfisches in den Schatten stellt. Das Abkühlen dieser chemischen Reaktion führt dazu, dass die feuchtwarme Monsoonhölle, die normalerweise einen ausgewachsenen burmesischen Wasserbüffel zur Dauersiesta zwingt, wie die klare Morgenluft im Allgäu daherkommt. Nachteilig ist eigentlich nur, dass meine zarte Gesichtshaut eine purpurrote Färbung bekommt, die einem preisgekrönten Pfälzer-Rotweinwinzer alle Ehre macht.

Die verbleibende Zeit bis zur amtlichen Abfahrt der Royal Burmese Railway schlagen wir in der Sule Pagode tot. Diese Pagode liegt mitten auf der Kreuzung zweier verkehrstechnischer Hauptadern Rangoons und mutet wie ein überdimensionierter Kreisverkehr an. Da die Sule Pagode mit ihrem achteckigen Grundriss vermutlich auf das 1. Jahrhundert v. Chr zu datieren ist, bin ich mir sicher, dass die beiden großen sechsspurigen Straßen erst im Nachhinein hinzugekommen sind. Obwohl, bei näherem Überlegen kann man ja schon bei dem historisch verbrieften cineastischen Ben Hur-Zeitzeugnis mehrspurige Streitwagen-Rennen bestaunen, die antike Formel 1 sozusagen, dass man vermutlich nicht genau sagen kann, ob die großzügige Runde um die Sule Pagode nicht der krönende Abschluss eines alljährlichen Wasserbüffelrennens gewesen ist. Frage über Fragen des Orients. Obwohl die Sule Pagode ziemlich alt ist, hat man wohl in näherer Vergangenheit eher moderne Baustoffe verwenden. Vielerorts zieren die Wände rechts und links von vergoldeten Buddhafiguren, blasspuffgelbe Fliesen, in dem hübschen 20cm mal 20cm 70er Jahre Schwimmbadformat. Früh morgens ist hier nicht viel los, daher haben wir den ganzen Tempel nahezu für uns ganz allein. Wie in allen Religionen der Welt, sind Opfergaben immer stets willkommen und natürlich auch hier in der Sule Pagode. Direkt am Eingang werden wir Zeuge, wie man sein Geld förmlich zum Fenster rauswerfen kann. Nun ja, eigentlich ist das ganz einfach: man nehme ein goldenes Schiffchen in Hühnerform mit kleiner Pagode darauf, etwa 50 cm lang und 15cm breit, befestige es an einem Drahtseil, dessen Enden jeweils in Kinderaugenhöhe und ca. in der Mitte einer goldenen Stupa befestigt ist. Nun fehlt nur noch ein Verlade- und Rückholmechanismuss sowie ein kleiner hölzerner Rahmen, je am Anfang und am Ende des Drahtseiles, der inhaltsschwanger das Tor zur Glückseeligkeit symbolisiert. Am unteren Ende ist das Schiffchen leer und der Gläubige wird animiert, dort seine sauer verdienten Kröten in den leeren Schlund der Pagode hüpfen zu lassen. Hat der

fahrende Pilger genug monetäres Gewicht in den goldenen Hühnerdieb gelegt, verschwindet die spirituelle Seeräuberbarkasse durch das Holzfenster Nr. 1 um wenige Minuten durch das Holzfenster Nr. 2 zu entschwinden, wo es unsichtbar, vermutlich von Buddhas eigenen mildtätigen Händen geleert wird und sogleich wieder gen Erdboden schwimmt, um die Seele des nächsten Gläubigen zu retten. Natürlich gibt es eine tolle, sehr transdimensionale esoterische Geschichte zu den beiden Holzrahmen, durch die der schnöde irdene Mammon verschwindet und die Seele reinigt, denn schließlich will die Pagode nun auch reichlich vergoldet sein. Aber jedem Tierchen sein Pläsierchen, es gehören immer zwei zu diesem System. Gold ist übrigens an der Sule Pagode, wie natürlich auch am Shwedagon, reichlich vorhanden. Die gesamte Stupa scheint mit vergoldetem Blech überzogen zu sein, das, trotz der tiefhängenden grauen Regenwolken, im fahlen Sonnenlicht funkelt. Als wir am Ausgang unsere Schuhe suchen, müssen wir feststellen, dass sie unter dem Heer der burmesischen Einheitslatsche verschwunden sind. Eigentlich sind wir in Asien immer auf Schlappen unterwegs, doch im Angesicht der anstehenden Bahnetappe, haben wir die Wanderchucks rausgeholt, was natürlich den spontanen Besuch eines Tempels immer anstrengend macht... Schuhe ausziehen, Socken ausziehen.... Socken wieder anziehen, Schuhe wieder anziehen... Wer nach Asien fährt, braucht in erster Linie Latschen, in denen man lange latschen kann. Sehe immer wieder Reisende in diesem Teil der Erde mit so gewaltigen Lowe-Bergstiefeln, was gleich Spontanmitleid bei mir erzeugt, denn die Hitze in solchen Boots kann schon mal echt spannend werden. Das bringt mich zu der zahnbelagfarbenen beige-weißen asiatischen Einheitslatsche, die, vermutlich in China, milliardenfach produziert wurde. Es gibt nur zwei Varianten dieses bei Land und Leuten ungemein beliebten Fußaccessoires. Entweder sind sie im Allgemeinen zu groß für die Frauenfüße oder sie sind zu klein, was dann eher die Männerfüße betrifft. Nun gut, man muss ja auch zugeben, dass es für so ein durchschnittliches Latschenkominat in der östlichen Mandschurei wirklich nicht einfach ist, mit einer einzigen

Kunststoffpressform den gesamten asiatischen Pazifikraum mit individuellem Schlappenschuhwerk zu beliefern. Das jeder Burmese nun, dem allgemeinen asiatischen Ästhetikempfinden nach eine Latsche bekommt, die einerseits monetär erschwinglich ist und andererseits auch noch der eigene Fuß maßgeschneidert reinpasst. Gott, was zuviel ist, ist zuviel! Das tolle an diesem ureigensten Fußbekleidungstücks ist, dass die Größe völlig egal ist, denn das Lauferlebnis ist für beide Geschlechter völlig identisch. Während die Männer sich eines, sich-vorwärts-schiebenden Ganges bemüßigen, wobei die Ferse in der Regel hinten überhängt und die Latsche im flotten Charlie-Chaplin-Look frech-lässig schräg auf den unteren Extremitäten hängt, müssen die Frauen mit Ihren Zehen krallende Muskelbewegungen beherrschen, damit der übergroße Plastikblock während des Marktbesuches oder der Shoppingtour nicht verloren geht. Aber das Tolle an der Einheitslatsche ist ja, dass man bei Verlust nicht lange warten muss, denn jede irgendwo rumliegende Latsche kann praktischerweise als ein sogenanntes Replacementproduct fungieren, ohne, dass man den Ankauf eines neuen vollständigen Paares auf sich nehmen muss. Besonders in der Pagode vereinfacht dieses System die zügige Abreise nach dem Gebetsstunden. Kein langes Suchen nach der eigenen Latsche, zack jeder nimmt die nächstbeste und sie passt immer! Wunder über Wunder des Orients. Man muss einfach zugeben, dass man uns dort weit voraus sind. Auch im Hinblick auf die Genderproblematik: Der Klang einer jeden Latsche ist vollkommen gleich - etwa ein schleppendes Schlappen - egal ob eine Burmese in seinem breitbeinigen John-Wayne-Gang sich daherschiebt oder eine zierliche Burmesin in eleganter Tempeltänzerinnenmanie vorbeischlappt: Der Sound ist immer gleich!


So ist beim Verlassen der Sule Pagode die Identifikation unseres Schuhwerks denkbar einfach und wir machen uns auf den Weg zum Bahnhof. Im Stillen hoffe ich auf ein bisschen Chaos - schließlich habe ich bei meiner Freundin den Ruf des weitgereisten Indiana Jones zu verlieren! Der Eingang zu den Bahnsteigen wird inzwischen von einem Bahnbeamten bewacht, der in gestärkter Uniform mit einem bügelfreien Lächeln unter dem Messingschild Complaint Centre thront. Auf dem immer noch geblümten Wachstuch liegt inzwischen ein spiralgebundener Schreibblock mit kariertem Papier und der dazugehörige farblose Einheitskulli ist exakt am Draht der Bindung ausgerichtet. Seine ganze Erscheinung strahlt Autorität, aber auch unbedingte Freundlichkeit aus. Trotz seines Lächelns und seiner gepflegten Erscheinung scheint es aber nicht im Mindesten in seiner Absicht zu liegen, überhaupt irgendwelche Beschwerden entgegen zu nehmen. Alles an ihm ist so, nun ja, wie soll ich es ausdrücken - akkurat - wie meine Großmutter es genannt hätte, dass eigentlcih niemand auf die Idee kommen würde, diese gelungene Impression der vollendeten Amtsperson mit so etwas plebejerhaften, wie eine Beschwerde, zu behelligen. Wir passieren ihn ohne in einen finsteren burmesischen Bürokratiekonflikt verwickelt zu werden.


Dann die Enttäuschung meines langen „Reiselebens“: Kein Drängeln, kein Durcheinander, keine reduzierte physische Distanzzone zu Mitreisenden, überhaupt keine unkontrollierbaren Massen - nichts! Gar nichts. Man steht gelassen in einer Reihe und wartet, bis man dran ist oder sitzt geschmeidig auf den sauber und vorsorglich ordentlich aufgereihten Stuhlsegmenten der Royal Burmese Railway Administration. Kann zwischen Monsoonschwitzen und Angstschweiß, dessen Ausbruch durch Annis skeptischen Seitenblick ausgelöst wird, nicht mehr unterscheiden. Der geneigte männliche Reisende wird diesen Blick kennen, der den Mann als solchen irgendwo zwischen Pinocchio und Baron Münchhausen verortet und man sofort das Haupt senken möchte, um der fulminaten Missbilligung des eigenen Ichs zu entgehen. Aber der Juju-Mann in mir begehrt auf und wenn es nicht besser wird mit den anvisierten Abenteuern, dann werden wir auf dem Rückflug halt eine Nacht in der Nähe des Fischmarks von Kowloon verbringen - das wird es auf jeden Fall herausreißen.

Was soll ich erzählen, wir sind gesittet in den Zug eingestiegen, ohne Drängeln, ohne Chaos, ohne Horden von Menschen mit Horden von Verwandten, einfach so, als wären wir in Gelsenkirchen-Ückendorf. Die totale Frechheit überhaupt ist, dass unsere Plätze nicht belegt waren und es nicht mal eine kleine abenteuerliche Diskussion um die Sitzplätze gibt! Verrückte Welt, denke immerzu an das Menschenaufkommen in U-Bahnstation am Star Ferry Pier, die Kowloon mit Hongkong Island verbindet oder den Bahnhof von Kalkutta, wo ich mal mehrere Stunden in einem Tuktuk eingekeilt saß. Irgendwo hab ich mal gelesen, das in Mumbai etwa 50000 Menschen, in Worten Fünfzigtausend Menschen durch den Bahnhof gehen - in der Stunde! Hier sind es vielleicht 50. Nachdem sich der Zug langsam in Bewegung gesetzt hat, starre ich noch lange nachdenklich aus dem Fenster und lasse die Stadt Rangoon an mir vorbeiziehen ... Wunder über Wunder des Orients.
